Europa lebt mit und von seinen Meeren. Sie prägen Wetter und Klima, sichern Jobs und Einkommen, sind Erholungsraum, Transportweg und Nahrungsquelle. Doch die Ozeane vor unseren Küsten verändern sich im Rekordtempo – durch den Klimawandel.
Rekordwarme Sommer in Nord- und Ostsee, marine Hitzewellen im Mittelmeer, eine beunruhigende Entwicklung der großen Strömungen im Atlantik und dramatische Verluste von Eis und Stabilität im Nordpolarmeer – all das ist nicht mehr ferne Zukunft, sondern Gegenwart.
Neue Studien zeigen, wie tief der Klimawandel bereits in die marinen Systeme eingreift – und welche Folgen das für Menschen an Europas Küsten hat, von der Fischerei über den Tourismus bis zum Küstenschutz.
Die Forscherinnen und Forscher, die diese Veränderungen beobachten, sprechen längst nicht mehr von hypothetischen Risiken. Sie beschreiben eine Realität, die in den kommenden Jahren härter werden wird, wenn die Weltgemeinschaft beim CO2-Ausstoß nicht konsequent gegensteuert.
Nord- und Ostsee: Bis zu drei Grad wärmer
Der Sommer war in diesem Jahr an der Nordsee so warm wie nie seit Beginn der systematischen Messungen 1969. Nach Angaben des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) lag die mittlere Oberflächen-Temperatur in den Sommermonaten bei 15,7 Grad Celsius – regional waren es sogar bis zu drei Grad über dem langjährigen Mittel.
Besonders stark war die Erwärmung in der westlichen und südwestlichen Nordsee bis in den Ärmelkanal hinein. Die Deutsche Bucht und die östliche Nordsee verzeichneten Abweichungen von bis zu 1,3 Grad.
„Wir sehen einen Zusammenhang mit einer ausgeprägten marinen Hitzewelle vor Norwegen in diesem Sommer, die sich bis in die Nordsee hinein auswirkte – ein Phänomen, das in Zeiten des Klimawandels vermehrt auftritt“, sagte BSH-Referatsleiterin Dagmar Kieke.
Auch die Ostsee war deutlich zu warm; dort wurden teils Abweichungen von mehr als zwei Grad registriert. Zugleich erfasste das BSH im Frühjahr an der Station Leuchtturm Kiel die längste marine Hitzewelle seit Messbeginn: 55 Tage am Stück. Offenbar nicht der Ausreißer eines einzelnen Sommers, sondern Ausdruck eines Trends, der sich über Jahre aufgebaut hat.
Was bedeutet das für die Küsten? Wärmere Oberflächen begünstigen die Ausbildung stabiler Schichtungen: Unten wird es sauerstoffarm, oben heizt die Sonne das Wasser weiter auf.
Das stresst Muscheln, Krebse und Fische, die an kühlere Bedingungen angepasst sind – während wärmeliebende, teils invasive Arten leichter Fuß fassen. Fischer berichten von sich verlagernden Beständen. Traditionelle Fanggründe funktionieren nicht mehr wie früher.
Zugleich wachsen die Anforderungen an den Küstenschutz. Auf einen langfristig steigenden Meeresspiegel treffen häufiger extreme Wetterlagen, Sturmfluten können höher ausfallen, und Sandstrände erodieren schneller.
Messnetze aus Satelliten, Bojen und Forschungsschiffen belegen diese Entwicklung – und sie passt in das Bild eines sich in Teilen rasch erwärmenden Nordatlantiks, der die Randmeere Europas zusätzlich aufheizt.
Die Erfahrung dieses Sommers ist deshalb trügerisch. Für den Urlaub mag die Zwei-Grad-Abweichung „nur“ wärmeres Badewasser bedeuten. Ökologisch ist eine Erwärmung um zwei Grad ein Sprung, der Nahrungsketten durcheinanderbringen kann, Algenteppiche begünstigt und, speziell in einem Flachmeer wie der Ostsee, sauerstofffreie Zonen am Meeresgrund vergrößert.
Auch ökonomisch sind die Folgen gravierend, etwa für die Fischerei, denn Arten wie Hering und Dorsch verändern ihre Verbreitungsgebiete oder nehmen in ihren Beständen ab. Zudem steigen die Kosten für Küstenschutz und Infrastruktur. Höhere Wasserstände und häufigere Sturmfluten erfordern robustere Deiche, häufigere Reparaturen und Anpassung von Hafenanlagen.
Mittelmeer: Schneller, heißer, saurer
Nirgends in Europa reagieren die den Kontinent umgebenden Wassermassen so empfindlich wie im Mittelmeer und seinem Randmeer, dem Schwarzen Meer. Es handelt sich um ein Binnenmeer, das durch die Straße von Gibraltar nur begrenzt mit dem offenen Ozean verbunden und daher besonders anfällig für Erwärmung und Versauerung ist.
Eine aktuelle Meta‑Analyse unter Leitung des Geomar-Helmholtz-Zentrums Kiel hat dazu 131 Studien ausgewertet und ein Diagramm erstellt, das sichtbar macht, ab welchen Erwärmungsstufen Risiken hoch oder sehr hoch werden. Das Ergebnis ist eine Warnung: Schon bei zusätzlicher Erwärmung um wenige Zehntelgrad drohen Seegraswiesen, Fischbestände und Küsten-Lebensräume massive Schäden zu erleiden.
Die Gegenwart bestätigt die Modelle. Der Juli 2025 war für das Mittelmeer der wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen. Die Wassertemperaturen betrugen im Schnitt 26,9 Grad, gebietsweise wurden 28 Grad und mehr gemessen.
Der Copernicus Marine Service der EU verzeichnete zugleich die stärkste jemals in einem Juli beobachtete Hitzewellen-Intensität. Bis zu 65 Prozent der Meeresfläche waren danach betroffen. Diese Ausnahmesituation ist doppelt brisant: Sie trifft Meeresregionen, die bereits durch Überfischung, Verschmutzung und Habitatverlust geschwächt sind, und Küsten, an denen Dürreperioden und Starkregen-Ereignisse zunehmen.
Was steht auf dem Spiel? Seegraswiesen, Kinderstuben für unzählige Fische und wirksame CO2-Speicher, sterben bei anhaltender Erwärmung ab. Wärmeliebende Algen und invasive Arten nehmen zu.
Studien rechnen bei einer zusätzlichen Erwärmung um etwa 0,8 Grad mit einem Rückgang der Fischbestände um 30 bis 40 Prozent – mit Folgen für Küstenkommunen in Italien, Griechenland und Spanien, die Fischerei betreiben.
Hinzu kommt der Meeresspiegelanstieg, der Dünen und Süßwasser-Feuchtgebiete unter Druck setzt sowie die Erosion verstärkt. Auch der Tourismus, jahrzehntelang Profiteur des milden Klimas, spürt inzwischen die Kehrseite: geschlossene Strände wegen Algenblüten, Hitzewarnungen, Wasserknappheit.
Die Geomar-Fachleute um Abed El Rahman Hassoun und Meryem Mojtahid warnen: Ohne deutlich mehr Erfolge beim Klimaschutz werden die Risiken so groß, dass sich die Ökosysteme kaum anpassen können – jedes Zehntelgrad weniger zählt.
Atlantik: Wenn die Umwälzströmung schwächelt
Weit draußen im Atlantik pumpt ein Strömungsband warmes Wasser nach Norden: die atlantische Umwälzströmung AMOC, zu der auch der Golfstrom gehört. Sie trägt wesentlich dazu bei, dass Westeuropa vergleichsweise milde Winter hat.
Doch aktuelle Forschungsarbeiten deuten darauf hin, dass die AMOC teils schwächer geworden ist und bei fortschreitender Erwärmung bereits in zwei Jahrzehnten einen Kipppunkt erreichen könnte. Was abstrakt klingt, hätte konkrete Folgen: In Teilen Europas könnte es trotz globaler Erwärmung vorübergehend kühler werden, während extreme Wetterlagen – von Winterstürmen bis zu Starkregen – häufiger und heftiger auftreten.
Laut der Max-Planck-Gesellschaft betragen die möglichen Folgekosten einer AMOC-Abschwächung bis 2100 mehrere Billionen Euro, nicht zuletzt, weil der Ozean dann weniger CO2 aufnimmt und die Erhitzung weiter vorantreibt.
Zugleich haben Beobachtungssysteme in den vergangenen Jahren außergewöhnlich hohe Wassertemperaturen in Teilen des Nordatlantiks festgestellt. Diese Wärme koppelt sich an die Atmosphäre zurück: Sie füttert Sturmsysteme mit Energie und Feuchtigkeit, kann Hitzewellen verstärken und die Zugbahnen von Tiefdruckgebieten verändern.
Der diesjährige Sommer passte in dieses Muster: Die Wassertemperaturen im Nordatlantik lagen erneut in einem Rekordbereich, besonders nahe Großbritannien und Frankreich. Für Europas Westküsten bedeutet das mehr wellengetriebene Erosion und höhere Belastung für Küstenschutz-Bauwerke.
Ein auf den ersten Blick paradoxes Szenario: In Europa kann es kühler und stürmischer werden, obwohl die Ozeane als Ganzes weiter Energie aufnehmen und sich aufheizen. Das unterstreicht, wie fatal es wäre, eine mögliche kurzfristige Abkühlung als Entwarnung zu missverstehen.
Nordpolarmeer: Schmelzendes Eis und neue Schiffsrouten
In der Arktis läuft die Klima-Uhr schneller. Die Region hat sich seit Beginn der Satellitenmessungen fast viermal so stark erwärmt wie der globale Durchschnitt. Das ist nicht nur eine ökologische Veränderung, es ist ein Systemwechsel.
Das sommerliche Meereis schrumpft in Fläche und Dicke, sein Volumen ist seit den 1980er-Jahren um rund 75 Prozent zurückgegangen. Erst in diesem Jahr meldeten Forschende zudem eine außergewöhnlich geringe Eisausdehnung im Winter – ein weiteres Signal dafür, wie gefährdet das Eis geworden ist.
Für die Menschen in Europas Norden und für indigene Gemeinschaften jenseits des Polarkreises wirkt sich das vielerorts bereits konkret aus: Küsten erodieren, weil Schutz durch Eis fehlt und Wellen ungebremst auf Land treffen. Infrastruktur in Permafrost-Gebieten sackt ab, Straßen, Leitungen und Gebäude werden instabil.
Gleichzeitig öffnen sich in den Sommermonaten neue Routen für Schiffe – wirtschaftlich verlockend, ökologisch riskant. Und das Schmelzwasser von Grönland verdünnt das salzige Nordatlantikwasser, was wiederum die Dichteverhältnisse ändert und die AMOC weiter schwächen kann.
Die Konsequenz aus all dem ist unbequem, aber eindeutig: Europa muss dem Schutz seiner Meere und Küsten noch mehr Aufmerksamkeit zuwenden als bisher, etwa durch Frühwarnsysteme für marine Hitzewellen, vorausschauende Fischereiregeln und naturbasierte Lösungen – etwa den Erhalt und die Wiederherstellung von Seegraswiesen als CO2-Senken und Wellenbrecher.
Doch ohne massive Emissionsminderungen laufen Anpassungsmaßnahmen der Realität hinterher. Der renommierte Geomar-Klimaforscher Mojib Latif mahnt daher: „Intakte Meere sind die Achillesferse der menschlichen Zivilisation. Klima- und Meeresschutz sind dringender denn je.“