In der russischen Region Wologda, rund 400 Kilometer nordöstlich von Moskau, kennt man Georgi Filimonow als exzentrischen Gouverneur. Der 45-Jährige filmt sich beim Eisbaden und beim Joggen, er rappt auf Stadtfesten.
Einmal zwang er Angestellte der Regionalverwaltung, vor laufender Kamera Liegestütze zu machen. Ein anderes Mal stellte er eine Mitarbeiterin wegen vermeintlich mangelhafter Englischkenntnisse vor versammelter Mannschaft bloß.
Nach seinem Amtsantritt im Oktober 2023 ließ Filimonow in seinem Büro ein eigens angefertigtes Gemälde aufhängen, auf dem er Sowjetdiktator Josef Stalin die Hand schüttelt.
Wologdas Gouverneur Georgi Filimonow (Mitte) polarisiert immer wieder mit seinen politischen Vorhaben.
© Imago/Kristina Kormilitsyna
Wiederholt wurde er Bürgern gegenüber so ausfallend, dass sich vor einigen Monaten Bewohner der Stadt Tscherepowez per Videonachricht an Wladimir Putin wandten und vom Kremlchef ein Ende „der Beleidigungen der Wologdaner durch den Gouverneur“ forderten.
Über die Grenzen von Wologda hinaus bekannt wurde Filimonow jedoch durch etwas anderes: Der Politiker hat es sich zum Ziel gemacht, seine Region auszunüchtern. Und das hat sie – zumindest laut Filimonows eigener Aussage – bitter nötig.
Wologda und der russische Norden sterben aus.
Gouverneur Georgi Filimonow schlägt Alarm wegen des steigenden Alkoholkonsums in seiner Region.
Im Oktober 2024 sagte der Gouverneur in einer Videonachricht, die Zahl alkoholbedingter Todesfälle sei massiv angestiegen, zuletzt auf 7500 pro Jahr. Seine dramatische Ansprache gipfelte in den Worten: „Wologda und der russische Norden sterben aus.“
Seit März dieses Jahres ist deshalb der Alkoholverkauf stark eingeschränkt. Ethanolhaltige Getränke dürfen unter der Woche nur noch von 12 bis 14 Uhr erworben werden, an Wochenenden hingegen wie zuvor von 8 bis 23 Uhr.
Im August dieses Jahres kündigte Filimonow außerdem an, der bekannten Getränkehandelskette „Krasnoe i Beloe“ die Lizenz für den Alkoholverkauf entziehen zu wollen. Man brauche in Wologda, lautete seine Begründung, keine „Händler des Todes“.
Pro-Kopf-Konsum zuletzt gestiegen
Mit seinem Alkoholproblem steht Wologda nicht alleine da. Seit Beginn von Russlands Vollinvasion in die Ukraine wird mehr getrunken im größten Land der Erde.
Im Jahr 2022, als der Krieg ausbrach, registrierte die nationale Statistikbehörde Rosstat erstmals seit einem Jahrzehnt wieder eine erhöhte Zahl an Alkoholismus-Diagnosen. Zwei Jahre später erreichte der Verkauf alkoholischer Getränke laut Marktaufsichtsbehörden einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen 2017.
Im März dieses Jahres schließlich gab Russlands Gesundheitsministerium bekannt, dass der Pro-Kopf-Konsum alkoholischer Getränke mit 8,41 Litern im Vergleich zum Vorjahresmonat um 2,4 Prozent angestiegen war.
Ob dahinter kriegsbedingte Angst und Depression stecken, ob es ein Versuch ist, der bedrückenden Realität durch Rausch zu entfliehen – all das lässt sich nur erahnen. In jedem Fall aber ist die Entwicklung auch deshalb besonders auffällig, als ihr mehrere Jahrzehnte sehr ambitionierter und teils von beachtlichen Erfolgen gekrönter Alkoholpolitik vorausgegangen waren. Denn die Geschichte von Alkoholmissbrauch in Russland ist lang – und die Liste der Versuche, dem Problem Herr zu werden, ebenfalls.
Bei vielen ehemaligen Sowjetbürgern bis heute unvergessen sind vor allem die berühmten Weinbergsrodungen, die der letzte Staatschef Michail Gorbatschow in den 1980er-Jahren veranlasste, um die dauerbetrunkenen Arbeiter auf den Kolchosen auszunüchtern.
Kein Kämpfer gegen Alkoholkonsum im Land: Russlands Präsident Boris Jelzin (Archivbild von 1999).
© dpa/EPA/Itar-Tass
Unter Russlands erstem Präsidenten Boris Jelzin – selbst schwer alkoholkrank – hatte das Thema in den Folgejahren keine besonders hohe Priorität. Nach der Jahrtausendwende und dem Machtantritt Wladimir Putins wehte aus dem Kreml dann wieder ein stärkerer Wind der Abstinenz.
Jahrelang erfolgreiche Alkoholpolitik
Unter Putin wurden unter anderem der Wodka-Mindestpreis erhöht, umfassende Werbeverbote erlassen und die Strafen für den Verkauf von Alkohol an Minderjährige erhöht.
Die Maßnahmen zeigten Wirkung: Hatte Russland nach der Jahrtausendwende noch zu den trinkfreudigsten Ländern in Europa gezählt, fiel der jährliche Pro-Kopf-Konsum von reinem Alkohol in den Jahren 2007 bis 2016 laut Weltgesundheitsorganisation WHO von 15,2 auf 11,7 Liter. Noch einmal drei Jahre später erreichte er mit 10,5 Litern pro Person einen neuen Tiefstwert. Zum Vergleich: Deutschland lag im selben Zeitraum mit 12,2 Litern pro Kopf laut WHO deutlich darüber.
Wollte von Anfang an das Bild eines starken, muskulösen und weitgehend abstinenten Mannes verkörpern: Wladimir Putin bei einem Fotoshooting im Jahr 2009.
© dpa/EPA/Ria Novosti/Alexey Druzhinyn
Zwar muss man einschränkend sagen: Auch die WHO ist bis zu einem gewissen Grad auf Statistiken nationaler Behörden angewiesen – und die Datenlage in autoritären Staaten wie Russland ist oft weniger verlässlich als in Demokratien. Hinzu kommt, dass das Land ein gewaltiges Problem mit illegal gebranntem und gepanschtem Alkohol hat. Dennoch lässt sich festhalten: Erstmals seit langer Zeit ist die Tendenz in Russland aktuell wieder steigend.
Im Großen und Ganzen hat der Krieg im 20. Jahrhundert eigentlich zu einem Rückgang des Alkoholkonsums in der Bevölkerung geführt.
Dmitri Dubrowski, russischer Historiker und Soziologe
Hierbei handele es sich um eine „ungewöhnliche Situation“, sagt der russische Historiker und Soziologe Dmitri Dubrowski dem Tagesspiegel. Zwar sei in der Armee schon immer viel getrunken worden, fügt er hinzu und erinnert an die berühmten 100 Gramm Wodka pro Tag, die sowjetischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg an der Front zustanden. „Aber im Großen und Ganzen hat der Krieg im 20. Jahrhundert eigentlich zu einem Rückgang des Alkoholkonsums in der Bevölkerung geführt. In Kriegszeiten wurden sogar Verbote eingeführt“, sagt Dubrowski.

Dmitri Dubrowski ist Historiker und Soziologe. Angesichts der Repressionen in seiner Heimat Russland forscht er seit mehreren Jahren an der Karls-Universität in Prag.
Dass es dieses Mal anders ist, könnte dem Wissenschaftler zufolge daran liegen, dass der Krieg gegen die Ukraine auch nach mehr als dreieinhalb Jahren deutlich geringere Teile der russischen Bevölkerung erfasst hat, als das in den 1940er-Jahren der Fall war. Für viele Menschen in Moskau und anderen Regionen wirken die Kämpfe im Nachbarland noch immer weit weg. Nationale Alkoholverkaufsverbote beschränken sich bislang auf einen Umkreis von wenigen Hundert Metern rund um Mobilisierungsstellen für Soldaten.
Menschen in Wologda umgehen neue Regeln
Ob nun ausgerechnet Georgi Filimonow, der umstrittene Gouverneur von Wologda, ein Rezept gegen den zunehmenden Rausch seiner Bevölkerung gefunden hat, darf laut Dubrowski bezweifelt werden: „Grundsätzlich zeigen eingeschränkte Verkaufszeiten überall Wirkung, auch in Russland“, sagt er. Doch die Frage sei, ob die strengen Regeln auch ausreichend von den Behörden kontrolliert würden.
Obdachlose in Moskau beim Alkoholkonsum (Archivbild von 2007).
© dpa/EPA/Yuri Kochetkov
„Ein zu enger Verkaufskorridor – in Wologda sind es an Wochentagen gerade einmal zwei Stunden – lässt zudem sowjetische Praktiken wieder aufleben“, gibt der Soziologe zu bedenken. Was das konkret heißt? Unter anderem „Trinkerrunden, Lieferung von Alkohol durch Kuriere, Kauf auf Vorrat, Selbstbrennerei“, sagt Dubrowski. Die tatsächlichen Auswirkungen der Maßnahmen werde sich erst mit größerem zeitlichen Abstand zeigen.
Bis dahin lobt zumindest Gouverneur Filimonow sich schon einmal selbst. Um ganze 53 Prozent sei die Zahl der alkoholbedingten Todesfälle allein zwischen März und Juni zurückgegangen, behauptete er. Überprüfen lassen sich die Daten allerdings nicht. Die Statistikbehörde von Wologda hat in diesem Jahr die Veröffentlichung von regionalen Geburts- und Sterbedaten eingestellt – und auch vorher alkoholbedingte Todesfälle nie gesondert aufgelistet.
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Schenkt man einer Reportage des unabhängigen russischen Recherchekollektivs „Bereg“ Glauben, sind die Bewohner von Wologda darüber hinaus alles andere als begeistert von dem neuen Maßnahmenpaket ihres Regionalchefs.
Die Reporter, die die Gebietshauptstadt besuchten, berichten von einem regelrechten Ansturm auf Supermärkte während der kurzen Alkohol-Verkaufszeiten, von Flaschen, die in den Mittagsstunden „fast ohne Unterbrechung“ die Ladentheken passieren, und von Rentnern, die ihren frisch erworbenen Whisky am helllichten Tag direkt vor dem Geschäft austrinken. Unmittelbar nach Inkrafttreten der neuen Regelung im Frühjahr seien die Warteschlangen „vergleichbar mit denen in der Sowjetunion“ gewesen, wird die Bewohnerin Jana zitiert.
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Freuen tun sich laut einem Beitrag des Senders Radio Swoboda immerhin die Taxifahrer der Region, die dank des Alkoholengpasses eine neue Einnahmequelle für sich entdeckt haben: Viele von ihnen hätten, beschreibt ein Redakteur, nun stets Alkoholvorräte im Kofferraum – und schenken ihren Fahrgästen gegen einen kleinen Aufpreis Bier und Schnaps in Pappbechern aus.