Russische Kampfjets im estnischen Luftraum, kurz zuvor russische Drohnen im polnischen, Cyberangriffe auf die Infrastruktur in Westeuropa und mittendrin ein russisches Großmanöver an der Nato-Ostgrenze: In Deutschland nennt man das „Provokationen“ Wladimir Putins.
Das ist nicht falsch, wird der Dimension von Putins Vorgehen aber nicht gerecht. Denn er sammelt dabei Informationen, die ihm im Fall eines Angriffs wertvolle Vorteile verschaffen: Welche Aktivitäten bemerkt die Nato und wie schnell? Wann reagiert sie und wie?
Provokationen, Angriffsvorbereitungen und psychologische Kriegsführung: Das ist die Methode Putin. Er zeigt Europas Nato-Staaten gnadenlos, wie gering er ihre Verteidigungskraft einschätzt. Er deckt die Lücken in der Abwehr auf. Er verunsichert die EU-Bürger und spaltet die Gesellschaften. Ist rasche Aufrüstung überhaupt nötig? Oder sind die Rufe nach mehr Diplomatie naives Appeasement?
Christoph von Marschall hat mit Militärexperten Wladimir Putins Optionen für einen Angriff auf Litauen und die Bundeswehr-Brigade dort diskutiert und in seinem Buch „Der schwarze Dienstag. Warum ein Krieg mit Russland droht und wie die Bundesregierung ihn verhindern kann“ beschrieben.
Viele wollten die Warnungen vor Putins Angriff auf die Ukraine nicht glauben, bis die Panzer rollten.
Auch jetzt wiegeln einige ab: Die Militärübung „Sapad“ (Westen) sei nicht ganz so aggressiv wie befürchtet verlaufen. Es waren sogar westliche Beobachter eingeladen.
Die nächsten vier, fünf Jahre sind die gefährlichsten. Diese Zeit brauchen Deutschland und Europa, um verteidigungsfähig zu werden. Das kann Putin in Versuchung führen, früher anzugreifen.
Christoph von Marschall, Diplomatischer Korrespondent der Chefredaktion
Doch Militärs und Politiker dürfen sich nicht damit begnügen, auf einen guten Ausgang zu hoffen. Sie müssen den „worst case“ vorbereiten. Dann steigen zudem die Chancen, dass sie Putin von einem Angriff abschrecken können.
Geld für Verteidigung macht noch nicht sicher
Ein erster Schritt ist getan. Deutschland will fünf Prozent vom Bruttoinlandsprodukt (BIP) für die Verteidigung ausgeben. Es wird aber Jahre brauchen, bis die Bundeswehr und andere Streitkräfte wieder die Personalstärke und Ausrüstung haben, mit der sie Putin so abschrecken wie im Kalten Krieg die Sowjetunion. Ohne Wehrpflicht wird das nicht gelingen.
Deshalb muss die Regierung, zweitens, den Bürgern offen sagen, wie gefährlich die Lage und wie hoch der Zeitdruck ist. Und ihnen zugleich Mut machen, damit sie nicht in Panik verfallen. Frieden durch Abschreckung, das konnten wir vor 1989. Warum sollten wir es nicht wieder können?
Europa muss Putins Respekt erzwingen
Manche sagen: Putin wird sich doch nicht mit der Nato anlegen. Die militärische Lage zwingt zur Gegenfrage: Warum sollte er das nicht tun? Ohne US-Hilfe ist Europa nicht verteidigungsfähig. Doch ob Amerika Beistand leistet, entscheidet vorerst Donald Trump.
Generell sind die nächsten vier, fünf Jahre die gefährlichsten. Diese Zeit brauchen Deutschland und Europa, um aus eigener Kraft verteidigungsfähig zu werden. Das kann Putin in Versuchung führen, lieber früher als später anzugreifen.
Deshalb muss Europa, drittens, mehr tun, um Putins Respekt zu erzwingen. Er verachtet die Westeuropäer, hält sie für dekadente Feiglinge und glaubt, dass er auf wenig Widerstand treffen wird, wenn er sein erklärtes Ziel mit Gewalt verfolgt, den sowjetischen Machtbereich zurückzugewinnen.
Erdogan hat Putins Kampfjet abgeschossen
Wovon lässt sich Putin beeindrucken? Der türkische Präsident Erdogan ließ einen russischen Kampfjet, der 2015 von Syrien in den türkischen Luftraum flog, abschießen. Seither lässt Putin die Türkei in Ruhe.
EU-Europa hat andere Gesetze, glaubt an die Kultur der Deeskalation, respektiert das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Doch auch in diesem Rahmen kann man härter reagieren. Ob Kampfjets in den Nato-Luftraum eindringen, Drohnen Bundeswehrkasernen ausspähen, Schiffe mit Ankern Datenkabel und Energiepipelines in der Ostsee attackieren: Das sind Angriffshandlungen.
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Viertens ist Europa in der Übergangszeit, bis es Putin aus eigener Kraft abschrecken kann, besonders dringend auf Verbündete angewiesen. Es muss die USA trotz Trump an seiner Seite halten und die Sicht auf die Ukraine klären.
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Auch wenn jeder, der ein Herz hat, ein Ende des Sterbens wünscht: Solange die Ukrainer kämpfen und Putins Truppen binden, kann er nicht so leicht eine zweite Front eröffnen.
Die Ukrainer brauchen jede Hilfe, die Europa parallel zur eigenen Aufrüstung leisten kann. Sie schenken uns die Zeit, die wir vertrödelt haben, aber jetzt so dringend brauchen, um uns zu befähigen, Putin von weiteren Angriffen abzuschrecken.