Wir befinden uns am letzten Septembersamstag, ganz München ist von Lederhosen- und Dirndlkleid-Trägerin besetzt … ganz München? Nein, auf dem von einer Schar unbeugsamer Kulturoptimisten bevölkerten Odeonsplatz hält man dagegen, bunter, vielfältiger und durchaus feinsinniger als im allgegenwärtigen Trarah und Umpftata. Dieses spontan errichtete Dorf mit Hütten, Zeltchen und einer Bühne nennt sich AnderArt-Festival. Und dass es ausgerechnet zur Mitte des Oktoberfestes, am sogenannten Italiener-Wochenende, dem Wiesnrummel mit Römern und anderen internationalen Gästen trotzt, ist kein Zufall.
AnderArt war von seinem Anfang vor fast 30 Jahren an gedacht als Alternative zum Oktoberfest. Als ein Ort, an dem München aus dem engen Dirndlkorsett ausbrechen und sich zeigen könne, wie es auch – also wirklich – ist. Denn München ist ja nicht nur von Ur-Bayern besiedelt, sondern zum Drittel von Menschen mit nicht-deutscher Staatsbürgerschaft, und zur Hälfte gar mit in anderen Kulturen Verwurzelten. Und die sollten der Welt, die zu Gast in der Weltstadt mit Herz ist, zeigen, wie gut oder wie anders es sich an der Isar leben lässt.
„So international musikalisch wie an diesem Tag ist München selten. Gänsehautgarantie!“, steht deshalb auch im Begleittext zum 28. AnderArt. Das bietet am Samstag, 27. September, satte zehn Stunden Programm, und das wie immer bei freiem Eintritt. Die multikulturelle Vielfalt reicht von Latin-Rhythmen über Hip-Hop zu Soul, Funk und Pop, statt Blasmusik bringt Reggaeton die Menge zum Tanzen, und gemeinsam gesungen wird auch. Allerdings nicht „Hulapalu“. Stattdessen üben Jens Junker und Ian Chapman vom „Go Sing Choir“ zusammen mit der Rapperin Gündalein mit den Massen als Spontan-Chor mehrstimmig die Friedens-Pop-Hymne „Where is the love“ der Black Eyed Peas ein und führen sie Youtube-Video-reif auf (16.30 Uhr). Zudem wird kämpferische Kunst mit Einflüssen aus aller Welt ausgestellt.
Somit ist AnderArt keine Kampfansage, aber eine sinnvolle Ergänzung zum Oktoberfest – wobei, ein bisschen Konkurrenz macht sich die Stadt München als Ausrichter damit schon selbst. Respektive das Kulturreferat mit der engagierten AnderArt dem Wirtschaftsreferat mit seiner lukrativen Bierzeltkultur. Ganz zu Beginn sollte das Festival denn auch eher wie eine Multikultikopie des Traditionsrummels auf der Theresienwiese aussehen, sogar mit eigenem Umzug der hiesigen internationalen Kulturvereine. Da sich dann aber immer dieselben emsigen Tanz- und Brauchtumstruppen am Odeonsplatz präsentierten, hinterfragte der damalige Kulturreferent Julian Nida-Rümelin das Konzept.
Heute präsentiert sich AnderArt – organisiert von Barbara Hein – in einer modernen Form als Welt-Kulturen-Party, die ganz unbeeindruckt von der Wiesn funktioniert und sich vor keinem Pop-Festival verstecken muss. Die meisten der Protagonisten leben tatsächlich in München und prägen die hiesige Kulturszene – haben aber weiter verzweigte Wurzeln als jede übliche Blaskapelle. Zum Beispiel Los Babriks, die AnderArt um 12 Uhr einläuten. Sie sind „die internationalste Cumbia-Combo der Welt“, wie die SZ einmal schrieb – ein Sextett aus sechs Nationen. Der Bongo- und Guiro-Rhythmiker Hector Tapia aus Chile, der spanische Gitarrist Gonzalo Blasco, der Conga-Spieler Jose Maldonado, der japanische Trommer Monori Shimayama, der spanische Bassist Mauricio-Joran Cesena und der Organist John Marinelli aus den USA grooven sich durch die Cumbia-Kultur, die derzeit in der Club-Szene hochgehandelt ist.
Volksfest der anderen Art auf dem Odeonsplatz: Hier wurde bei einem AnderArt-Festival zu einer Salsa-Band getanzt. (Foto: Robert Haas)
Zwischen den Welten lebt nach eigener Ansicht auch Daniel He (15.15 Uhr) – der queere Künstler wurde in China geboren und wohnt seit einigen Jahren in Deutschland, wo er „freier, aber nicht einfacher“ leben könne. In seinen von Nick Drake oder Joni Mitchell beeinflussten Songs reflektiert er seine „Distanz zur eigenen Herkunft“, feiert aber zugleich das „Weiterleben von Ritualen Sprache und emotionalen Spuren“ seiner Heimat – diese Widersprüche dürfen in seinen Konzerten bestehen.
Zwischen den Welten: Der Songwriter Daniel He thematisiert seine chinesische Herkunft. (Foto: Inselgruppe)
Ihrem Namen nach ist Helene Niederstrasser in Bayern beheimatet, sie hat aber auch brasilianische Vorfahren, und als Vandalisbin wurde die 22-Jährige zu einer Vorzeige-Streiterin der Münchner Pop-Kulturszene: Ihre Songs oszillieren zwischen Indie-Pop und Punk, sind queer und feministisch. Ihren auch im Radio gern gespielten Retro-Schunkler „White Girls“ sieht sie als „vielleicht sanfteste Alltagsrassismus-Kritik und ein ästhetisches Statement in einem Pop-Betrieb, der Diversität oft lieber kuratiert als lebt“ (18.15 Uhr).
Vandalisbin übt mit Songs wie „White Girls“ „sanfteste Alltagsrassismus-Kritik“. (Foto: Susanne Steinmassl)
Hauptattraktion ist DJ Romina Bernado alias Chocolate Remix um 20.30 Uhr. Sie kratzt die Menge mit Reggaeton auf, eigentlich ein übersexualisiertes Macho-Genre. Sie aber dreht den hochenergetischen Musikstil auf Links, thematisiert damit Zensur und Diskriminierung der LGBTQIA+-Community und weitere politische Probleme.
Dreht das Reggaeton-Genre auf Links: Romina Bernado alias Chocolate Remix. (Foto: Siego Stickar)
Bernado wird aus Argentinien eingeflogen – so weltoffen ist das AnderArt. Da muss nicht jeder Künstler aus München stammen, man duldet auch zugereiste wie die Bigband Dachau. Die bis zum Montreux Jazz Festival vorgedrungenen Stimmungsspezialisten mit ihrem glamourösen Mix aus Jazz, Techno und Soul fusionieren um 13.15 Uhr mit JJ Jones, Wahlmünchner und Zeremonienmeister aus Nashville, und der ukrainischen Jazz-Sängerin Olga Lukachova. Um 16.15, 18.30 und 20 Uhr laden sie jeweils zum „Musikant.innenstammtisch“. Bei diesen Jam-Sessions muss nicht unbedingt bayerische Wirtshausmusik gespielt werden, aber es darf jeder mitmischen, der sich berufen fühlt. In der Geselligkeit möchte man dem Oktoberfest in nichts nachstehen.
In den Kunst- und Aktionszelten auf dem Odeonsplatz sind spannende Ausstellungen zu sehen. Godwin Namanyabyoona verließ Uganda, wo er eine freie Künstlergruppe gegründet hatte, 2018 unter dem Druck des Militärregimes. Er setzt sich in seinen Arbeiten mit der Kolonialgeschichte auseinander. Mohammad Folad Anzurgar flüchtete 2024 aus Kabul, wo er als Dozent für Bildende Kunst an der Universität unterrichtet hatte. In seinen Bildern mache er „die Schreie afghanischer Frauen sichtbar“ und thematisiert die verschwundene Freiheit in seiner Heimat. Auch das Frauen-Street-Art-Kollektiv Munich Wallflowers kämpft in seinen Arbeiten politisch: Vanessa Hoffmann aus Florida in „Wimmelbildern“, Marcela Gloria mit mexikanischen Motiven, Athiya alias Bulbl Ink aus Sri Lanka in Schwarz-Weiß oder Melika Kerpel aus Izmir, die sich auf weltweiter jahrelanger Wanderschaft hat inspirieren lassen. Wenn man bedenkt, dass auf dem Oktoberfest tatsächlich noch 2024 über sexistische Karussell-Illustrationen diskutiert wurde, sieht man: Auf der AnderArt ist man längst weiter.
Anderart-Festival, Samstag, 27. September, 12 bis 22 Uhr, Odeonsplatz, Eintritt frei