Sie sind die unbekannten Macher hinter den Erfolgen von Hip-Hop-Größen wie Capital Bra, RAF Camora, Kontra K und Bonez MC. David Kraft (35) und Tim Wilke (36) aus Göttingen schreiben und produzieren seit ihrem 14. Lebensjahr Songs. Seit 2009 nennen sie sich „The Cratez“, brachen Streaming- und Verkaufsrekorde in Deutschland, sind Autoren von 20 Nummer-eins-Hits, der letzte war „Bauch, Beine, Po“ von Shirin David. Nur Dieter Bohlen schaffte bislang mehr Spitzenplätze (23), da der letzte allerdings fünf Jahre zurückliegt, scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, wann Wilke und Kraft an ihm vorbeiziehen.
Die beiden leben inzwischen in Berlin, haben Familien gegründet und sich im Stadtteil Moabit ein eigenes Studio gebaut. Gleich hinter dem Eingang wird einem bewusst, wo man ist. Eng an eng stehen dort die Pokale, die es für Nummer-eins-Songs und Alben gibt. David Kraft ist ein ruhiger Typ, er drückt sich gewählt aus. Tim Wilke kommt aus der Skateboard-Szene und wirkt sehr sportlich. Sie trinken Wasser und Cola, tragen Lacoste-Shirts und sind bescheiden für die harte Rapszene, in der sie sich bewegen. Aber sie geben Einblicke in eine Welt, die sich für gewöhnlich abschottet.
WELT: Sie haben sehr früh angefangen, für andere Musik zu schreiben. Wie sind Sie darauf gekommen?
David Kraft: Mein Dad war sehr musikalisch. Er hat Gitarre und Klavier gespielt, bei uns zu Hause stand auch ein Flügel. Dadurch bin ich schnell mit dem Thema Musik in Verbindung gekommen. Ich hatte Klavierunterricht, ganz klassisch mit Notenlesen. Irgendwann hatte ich darauf keinen Bock mehr. Ich habe dann begonnen, Beats zu machen und Hip-Hop-Lieder zu schreiben. Mehr so für mich alleine am Rechner. Spannend daran fand ich, dass man Mucke machen konnte, ohne selbst ein Instrument spielen zu müssen. Das lief mehr wie ein Computerspiel. Und das hat mich so gefesselt, dass ich nicht mehr aufhören konnte.
Tim Wilke: Ich bin jahrelang Skateboard gefahren. Da gab es die Punk-Skater mit ihren engen Röhrenjeans, und es gab die Hip-Hop-Leute mit ihren weiten Klamotten. In einem Skate-Video fiel mir die Band Gang Starr aus New York auf. Ich fand ihre Beats unheimlich geil, und weil ich auch computeraffin war, habe ich mir alles Mögliche runtergeladen und angefangen, selbst Beats zu basteln. Ich hatte fünf Jahre lang Schlagzeug gespielt, richtig mit Unterricht, weil ich ein ADHS-Kind war und das brauchte, um mich abzureagieren. Unter den Skatern gab es viele Rapper, also habe ich angefangen, für sie Beats zu machen.
WELT: Sie waren beide Studenten in Göttingen. Haben Sie sich an der Uni kennengelernt?
Wilke: Ich traf Dave über seinen Bruder und habe sofort festgestellt, dass wir das Gleiche tun und auch das Gleiche wollen. Wir haben uns zusammengetan und angefangen, unsere Beats im Netz mit Lizenzen zu verkaufen. Es war erstaunlich, dass sogar Leute aus Amerika unser Zeug geil fanden. Unsere Beats liefen so gut, dass wir zwei Studenten unseren Lebensunterhalt damit bestreiten konnten.
Kraft: Ich hatte Wirtschaftsingenieur studiert, habe das Studium aber abgebrochen. Ich hätte noch meine Bachelorarbeit schreiben und ein unbezahltes halbjähriges Praktikum machen müssen. Das ließ sich mit der Musik nicht vereinbaren, und ein Praktikum faken wollte ich nicht.
Wilke: Ich habe Sport und Englisch auf Lehramt studiert, wie meine Mutter. Das fiel mir so leicht, dass ich dachte, ich könnte das so nebenbei dribbeln. Ging aber auch nicht. Mein Master habe ich noch gemacht, am Tag der Abgabe sind wir von Göttingen nach Berlin umgezogen, das war genau an meinem Geburtstag. Als ich im Transporter saß, wusste ich: Das war es, Lehrer wirst du nicht.
WELT: Nach Ihrem Umzug nach Berlin haben Sie sich Vollzeit in die Musik gestürzt?
Wilke: Absolut. Wir haben jeden Tag 18 Stunden im Studio verbracht. Als dann die ersten Charterfolge kamen, wollten alle mit uns arbeiten, die Leute haben uns das Studio eingerannt.
Kraft: Wir waren in einem eher runtergekommenen Kellerstudio am Görlitzer Park. Das war ein altes Studio von RAF Camora. Am Ende unserer Zeit in dem Studio hatten wir sogar Probleme mit Ratten dort. Aber ohne dieses Studio hätten wir nicht die Möglichkeit gehabt, uns so schnell etwas in Berlin aufzubauen. Die Künstler kamen irgendwie gerne dorthin, vielleicht, weil das Studio einem das Gefühl gab, ganz am Anfang seiner Karriere zu sein.
Wilke: Dadurch haben wir dort alle möglichen Leute kennengelernt: RAF Camora, Capital Bra, Bausa, Joshi Mizu. Durch unseren Online-Beat-Handel konnten wir den Leuten tausende Beats vorspielen und haben am Anfang immer nur gesagt: Komm, nimm. Wir haben uns so gefreut, dass alle auf unsere Beats abgefahren sind, dass wir gar nicht ans Geldverdienen dachten.
WELT: Wovon haben Sie dann gelebt?
Wilke: Von den Gema-Gebühren und noch von unseren Online-Beat-Verkäufen. Wir hatten fest mit RAF Camora zusammengearbeitet, und er war schon ziemlich groß im Geschäft. Er hat eingefädelt, dass wir die Künstler seiner Agentur produzieren, das waren echt viele. Wir haben jedes Jahr sechs bis zehn Projekte begleitet. Wir waren da wie in einem Tunnel – alles ging nur auf die eins, eins, eins. Und die Zeit flog nur so vorbei. Mindestens 80 Prozent der Nummer-eins-Songs landeten wir innerhalb von vier, fünf Jahren.
Kraft: Ja, das war Ende 2017 bis 2022.
Wilke: Da stimmte einfach alles: Die Zeit, die Umstände, und wir hatten echt viel Glück.
WELT: Spielte also auch Glück eine Rolle?
Wilke: Ja. Zum Beispiel kam Capital Bra ins Studio. Ehrlich gesagt, hielten wir ihn für einen Drogendealer. Erst später haben wir erfahren, dass er als Gangsterrapper schon voll groß im Geschäft war.
Kraft: Und in Wirklichkeit war er zu der Zeit gerade auf der Suche nach Produzenten, die sich richtig für ihn ins Zeug legen. Und wir haben gesagt. „Hier, nimm unsere Beats. Mach was draus.“ Und er war so begeistert und sagte: „Ihr seid so cool, schenkt mir hier einfach Beats. Ich mache jetzt alles mit Euch.“
Wilke: Und parallel entstanden über unseren Online-Verkauf die verrücktesten Sachen. Zum Beispiel hatte Boi1Da, der Produzent von Drake, in den USA einen Künstler unter Vertrag, der hieß Joyner Lucas. Für ihn haben wir den Song „I’m not Racist“ produziert. Dafür wurden wir für einen Grammy nominiert.
Kraft: Auch so ein Glücksgriff. Weil er ein ehrlicher Typ war, der uns korrekt bei der Gema angemeldet hat. Am Ende sind sieben, acht Songs von uns auf seinem Album gelandet und eines wurde ein großer Hit.
WELT: Wie ist das, für einen anderen einen Song zu schreiben? Ist das nicht etwas sehr Emotionales?
Kraft: Das ist ein kollaborativer Prozess. Man sitzt mit dem Künstler zusammen, überlegt, was man gemeinsam machen könnte. Man gibt keinen Teil seiner Seele her.
WELT: Welches Gefühl hat man, wenn man mit Gold für sein Werk ausgezeichnet wird?
Kraft: Die ersten ein, zwei, drei goldenen Platten geben dir ein unglaubliches Gefühl. Du denkst dir ständig, wie krass das ist, dass einem so etwas passiert. Die zehnte oder 20. hat nicht mehr den gleichen Effekt. Da wird nicht mehr so viel Dopamin ausgeschüttet.
Wilke: Es eine Zeit, in der unter den Top 50 in Deutschland ein Drittel oder mehr Lieder von uns kamen. Dieter Bohlen hat etwa 50 Songs in die Top 50 gebracht, wir über 250. Das muss man sich mal vorstellen.
WELT: Wie lässt sich Ihr Erfolg erklären?
Wilke: Die Alben sind herausgekommen, und die Kids haben sie komplett durchgestreamt, schon war das ganze Album in den Spotify-Charts. Wenn dann zwei unterschiedliche Alben zeitgleich draußen waren, waren die Charts halt voll mit unseren Songs. Man konnte das gar nicht richtig verarbeiten. Leute erzählten uns, sie liefen durch die Stadt, und alle hörten unsere Songs. Meine Mutter ist Lehrerin, sie rief an und sagte: „Bei mir an der Schule spielen die Kids zu eurer Musik Basketball.“ Wir haben von alldem kaum etwas mitbekommen, wir waren ja längst wieder im Studio und arbeiteten an dem nächsten Album.
WELT: Würden Sie für Ihre Songs nicht auch gerne mal selbst im Rampenlicht stehen?
Kraft: Es ist nicht jeder dafür gemacht, ein Superstar zu sein. Ich weiß nicht, ob wir das Zeug gehabt hätten, Künstler zu werden. Wir bekommen ja auch genug von den Schattenseiten des Ruhms mit. Einige Künstler haben dadurch richtig starke psychische Probleme. Natürlich verdienen sie mehr als wir – aber wir können von dem, was wir machen, gut leben.
Wilke: Das Gute ist, dass niemand kreischt, wenn wir mit unseren Kindern ein Eis essen gehen. Niemand erkennt uns. Große Künstler können keine Straße entlanglaufen, ohne dass jemand ihren Namen ruft. Es ist schon ein Vorteil, im Hintergrund zu bleiben. Ganz ehrlich: Würde mir jemand zehn Millionen anbieten dafür, dass ich so bekannt wäre wie der oder der – ich würde ablehnen. Wir können, anders als Künstler, jederzeit die Arbeit mal runterfahren und uns eine Weile ausschließlich unserer Familie widmen. Wenn mich meine Kinder brauchen, bin ich da, das gilt auch für meine Ehe.
WELT: Wieso nennen Sie sich „The Cratez“. Ihre echten Namen tauchen so auf keiner Platte auf.
Kraft: Das ist eher so ein Hip-Hop-Ding. Da ist es wichtig, sich einen coolen Namen zu geben.
Wilke: Weil wir online Beats verkauft haben, brauchten wir auch einen Profilnamen. Die Kunst, in Plattenkisten nach Samples zu graben, nennt man „Digging in the Cratez“. So sind wir auf diesen Namen gekommen. Wir sind die wandelnde Plattenkiste, aus der man sich Samples rausholen kann.
WELT: Was zeichnet deutschen Rap aus?
Kraft: Der deutsche Rap hat sich jahrelang an den USA und Frankreich orientiert. Inzwischen hat er eine eigene Identität. Da sind Techno-Einflüsse, die es woanders nicht gibt. Deutschland hat eine krasse Hip-Hop-Szene.
Wilke: Deutsch-Rap macht genau das, was mal der Ursprung des Rap war. Hip-Hop war in den USA die Stimme der Afroamerikaner, der Migranten, wenn man so will. Hier ist es genauso. Ukrainer, Türken, Araber sind am erfolgreichsten im deutschen Rap. Es gibt natürlich auch deutsche Deutsch-Rapper, aber eigentlich hatte jeder oder jede, mit der wir gearbeitet haben, einen Migrationshintergrund. Deutscher Rap ist die Stimme der Migrationskultur. Ein Streetslang, der mittlerweile von allen gehört wird.
WELT: Warum sind Sie so gut in dem, was Sie machen?
Wilke: Dadurch, dass wir Autodidakten sind, haben wir uns von Beginn an gar nicht an irgendwelche Regeln gehalten. Der Sound, den wir in den Rap hineingebracht haben, basiert auf lauten Drums, auf lauten Bässen, es muss halt ballern, sag ich mal. Der Bass muss im Auto knallen, die Stimme aber trotzdem gut hörbar sein.
Kraft: Für Shirin David machen wir natürlich andere Beats als für Capital Bra.
Wilke: Ich würde unsere Herangehensweise mit der von Jimi Hendrix vergleichen, der sich auch das Gitarrespielen selbst beigebracht und dann auf eine Art gespielt hat, wie man es vorher noch nie gehört hat. Musik ist manchmal ein kreativer Unfall. Man selbst empfindet es als ganz normal, andere als neu.
Kraft: Im Hip-Hop gibt es wenige, die eine musikalische Ausbildung haben. RAF Camora ist eine absolute Ausnahme, er kann auch Gitarre und Klavier spielen. Als wir anfingen, war es total selten, dass ein Künstler auch nur einen Akkord auf dem Klavier spielen konnte.
WELT: Dieter Bohlen liegt noch drei Nummer-eins-Hits vor Ihnen. Er hat 23, Sie 20. Ist es Ihnen wichtig, diesen Rekord zu knacken?
Kraft: Wir hatten es lange als Ziel in unseren Köpfen, Dieter Bohlen einzuholen, das gebe ich ganz ehrlich zu. Ich habe mich aber inzwischen von dieser Idee gelöst. Nummer-eins-Hits kann man nicht erzwingen. So ein Song geht durch drei Filter: Man muss mit dem Künstler harmonieren, der Künstler muss erfolgreich sein, und die Leute müssen den Song auch noch feiern. Dann sollte man auch noch Glück haben, dass kein anderer Song einem die Nummer eins wegschnappt. Wir haben nie mit der Musik begonnen, um auf die Eins zu gehen. Vielmehr haben wir die Mucke gemacht, die wir geil fanden, und das haben die Leute dann auch gefeiert.
Wilke: Natürlich haben wir irgendwo einen Riecher, sonst hätte das nicht so oft geklappt. Würden wir aber nur ins Studio gehen, um auf der Eins zu landen, kann das auch nach hinten losgehen. Genau das, was einem am Ende egomäßig das Genick brechen kann. Wer denkt, er hätte den goldenen Schlüssel fürs Musikmachen, der täuscht sich. Den hat keiner.
Kraft: Die Zeit und mit ihr jeder Trend ist noch schnelllebiger geworden. Erst war da das Album, dann der Song. Auf TikTok gehen jetzt nur noch Ausschnitte eines Songs viral. Zehn Sekunden eines Songs sind dann für drei Wochen in aller Munde, und dann ist die nächste Sequenz dran. Das bedeutet Sekunden-Ruhm
Wilke: Es wäre toll, wenn es eine Rückbesinnung gäbe. Wenn die Leute wieder Bock darauf hätten, ganze Alben zu hören oder sich mit einem Künstler auseinanderzusetzen.
WELT: Apropos Künstler. Sie haben mit so vielen zusammengearbeitet. Was war das Verrückteste, das Sie erlebt haben?
Kraft: Das Studio ist für Künstler ein Rückzugsort, da passieren selten verrückte Dinge. Klar, wird auch mal Party gemacht, aber das bleibt die Ausnahme. Die verrückten Sachen passieren auf Tour, und da sind wir nicht dabei.
Wilke: Eine Sache vereint alle Künstler: dieses grandiose Überzeugtsein von sich selbst. Dadurch leben sie in einem Kosmos, in dem sich alles nur um sie dreht.
WELT: Passen Sie denn zum Hip-Hop? Sie sind ungewöhnlich normal.
Wilke: Produzenten sind aber auch ein anderer Schlag Mensch als Rapper oder Künstler im Allgemeinen.
Kraft: Wer sich für unseren Weg entscheidet, hat vermutlich ein nicht ganz so großes Ego wie derjenige, der Künstler wird. Wir haben uns dafür entschieden, im Hintergrund zu bleiben. Wir sind nicht stellvertretend für die Hip-Hop-Szene.
WELT: Die Hip-Hop-Szene ist bekannt durch Künstler wie Bushido und Sido. Die Leute haben deshalb ein bestimmtes Bild vor Augen. Stimmt das?
Kraft: Gerade bei Bushido haben die Leute ein falsches Bild. Viele denken bei ihm an einen Gangsterrapper, sie verbinden ihn mit Clan und Kriminalität, aber das stimmt nicht.
Wilke: Bushido ist ein ganz eloquenter Typ. Er ließ sich eher von Gangstern beschützen, als selbst einer zu sein.
WELT: Sie kennen viele Gangsterrapper. Was zeichnet die aus?
Wilke: Gangsterrapper sind aus meiner Sicht oft selbst überhaupt keine Gangster, sie rappen eher über den Lifestyle eines Gangsters.
Kraft: Gangsterrapper spielen eine Rolle oder bedienen ein Image als wirklich von Beruf Gangster zu sein. Einen Hintergrund von der Straße haben sie jedoch oft schon.
Wilke: Die richtigen Gangster kennt man gar nicht, die bleiben im Hintergrund. Oder wenn man sie kennt, sind sie so schlau, es nicht an die große Glocke zu hängen.
WELT: Aber bekommen Sie nicht ab und zu einen Schrecken, wenn Sie ein Lied geschrieben haben und der Künstler dann einen Text dazu schreibt, der von Brutalität und Verbrechen handelt?
Kraft: Wenn Gangsterrapper unsere Songs nehmen, ist das für mich, als würde ich mir einen Film anschauen. Da ist ja auch nicht zwangsweise alles echt. Ich glaube, vieles, das Gangsterrapper so singen, haben sie mal auf der Straße gesehen und in den Song einfließen lassen. Ich finde übrigens auch, dass es generell besser geworden ist.
Wilke: Finde ich auch. Früher waren türkische Rapper frauenverachtend bis zum Abgrund der Abgründe.
Kraft: In den 90er-Jahren gab es Untergrund-Sachen, die würde sich heute niemand mehr trauen auszusprechen. Ich muss trotzdem zugeben: Es gibt auch Sachen, die wir produziert haben, die ich nicht unbedingt meinen Kindern zeigen würde.
Wilke: Als wir erfolgreich geworden sind, waren wir Mitte 20, hatten keine Kinder und waren selbst viel rebellischer unterwegs. Das ist jetzt anders. Ich bin 36 und setze mich viel mehr damit auseinander, was ich mache.
WELT: Wieso ist Sido massentauglich?
Kraft: Die Leute sind sehr darauf bedacht, was cool ist und was nicht. Viele Rap-Leute würden sich dafür schämen, bei „DSDS“ in der Jury zu sitzen. Wenn Du von RTL viel Kohle nimmst, bist du nicht mehr Straße. Dann hast du deine Seele verkauft. Und Hip-Hop brüstet sich damit, dass alles echt ist. Die Leute schreiben ihre Texte selbst, weil sie sonst nicht cool sind. Sido ist der Einzige, von dem alle sagen, er ist eine Legende. Er findet im Radio statt, im Fernsehen, und ist trotzdem noch cool genug, dass jeder mit ihm arbeiten möchte.
Wilke: Er hat es geschafft, nach seinen großen Hits so ikonisch für die nächste Hip-Hop-Generation zu sein, dass er weitere Hits mit anderen Leuten landen konnte. Sei es mit Apache 207 oder mit Kontra K.
Kraft: Bushido hätte das auch so machen können, wenn er es ein wenig schlauer angegangen wäre. Wenn du aber alles von dir preisgibst, ist das halt nicht mehr cool.
WELT: Was hat Apache 207, das andere nicht haben? Er ist unglaublich erfolgreich.
Wilke: Ich finde ihn als Künstler super. Zweimetertyp mit langen Haaren, super Stimme. Er ist als Charakter geil, jeder liebt ihn, er ist ein echter Star. Ein superinteressanter Kosmos. Dann diese 80s-mäßige Musik, die er macht – er wird für immer erfolgreich sein. Er hat es geschafft, diese Meme-Erscheinung, die er ist, vom Namen über Aussehen in eine Brand zu verwandeln. Das ist es, was einen großen Künstler im Social-Media-Zeitalter ausmacht.
Kraft: Er ist eine tolle Kombination aus allem und hat einen hohen Wiedererkennungswert. Das hat Nina Chuba auch. Du musst in einem Satz zusammenfassen können, was einen Künstler ausmacht. Das geht bei beiden.
Wilke: Aber ich bin ehrlich: Er hat es auch nicht mehr so leicht, auf die Eins zu gehen wie vor vier, fünf Jahren. Das ist diese schrecklich schnelllebige Zeit.
Kraft: Jeder Künstler steht und fällt mit seinem nächsten Schritt. Du musst dich mit jedem Album wieder neu erfinden.
WELT: Sie haben gerade ein Album mit Shirin David aufgenommen, die viele aus der Jury von „DSDS“ kennen. Das war für Sie sicher anders.
Wilke: Hat voll Bock gemacht, mal so was Poppigeres zu machen. Cleanere Inhalte, feministischere. Sich im Studio auch mal über andere Themen zu unterhalten, war echt schön. Bei „Bauch, Beine, Po“ haben wir einen Beat versucht, den es so noch nie gab. Außerdem hat Shirin eine sehr professionelle, völlig andere Art zu arbeiten.
WELT: Sie sind beide Väter. Hat sich dadurch etwas für Sie geändert?
Wilke: Es war total witzig. Wir waren gemeinsam in Kroatien, und Dave kam auf mich zu und meinte: „Du, ich muss dir was sagen – meine Frau ist schwanger.“ Und ich so: „Ach, wie geil, meine Frau ist auch schwanger.“ Das war so irre! Die Geburtstermine lagen zehn Tage auseinander.
Kraft: Auch das war natürlich ein riesiges Glück.
Wilke: Wäre nur einer Vater geworden, hätte der andere hier die Stellung halten müssen und wäre garantiert pissig geworden. So konnten wir beide sagen: Wir sind jetzt Papas, lass uns mal ein bisschen neu ausrichten. Ich bin so dankbar dafür, dass das so gelaufen ist.
WELT: Sie haben die Arbeit reduziert?
Kraft: Es geht um psychische und physische Gesundheit. Statt sieben Tage 18 Stunden lang im Studio zu sitzen, erkennen wir gerade, dass das Leben auch andere Facetten hat.
Wilke: Es gibt noch immer diesen magic Moment, wenn du im Studio feststellst, dass ein Song richtig geil wird, das kickt mich noch immer total. Aber ich brauche das nicht mehr siebenmal die Woche.
WELT: Sie erfüllen anderen Menschen Träume. Stellen Sie sich im normalen Leben auch in den Dienst der Sache?
Wilke: Wir ändern uns gerade. Arbeiten, arbeiten, arbeiten, und die Frau kümmert sich zu Hause um alles, ist vorbei. Wir legen beide großen Wert darauf, viel Zeit mit unseren Kindern zu verbringen. Wir haben uns so viele Jahre so extrem auf die Musik konzentriert, fast schon fanatisch. Unsere Kinder haben uns völlig neue Perspektiven für das Leben geschenkt. Sie haben uns auch andere Gefühlswelten eröffnet. Deshalb ist es schön, wenn wir in der Lage sind, uns entsprechend Zeit für sie zu nehmen.
Kraft: Wir haben unsere Endorphine jahrelang aus unserer Musik und dem Erfolg gewonnen. Es ist schön, jetzt auch wieder vermehrt Glücksgefühle durch andere Lebensbereiche wie die Familie gewinnen zu können.
Zu den Personen:
Die in Göttingen geborenen David Kraft und Tim Wilke sind das erfolgreichste Produzenten-Duo der deutschen Chart-Geschichte. Sie haben sich an der Uni in ihrer Geburtsstadt kennengelernt. Kraft studierte Wirtschaftsingenieur, Wilke Englisch und Sport auf Lehramt. Als sie begannen, gemeinsam Songs zu schreiben, stellte sich der Erfolg so schnell ein, dass beide ihr Studium nicht beendeten. Sie haben fünfmal so viele Top-50-Lieder geschrieben wie Dieter Bohlen. Sie nennen sich „The Cratez“, weil es im Hip-Hop wichtig ist, einen coolen Namen zu tragen. Die Kunst, in Plattenkisten nach Samples zu graben, nennt man „Digging the Cratez“, so kamen sie auf den Namen, erzählt Kraft: „Wir sind die wandelnde Plattenkiste, aus der man sich Samples rausholen kann.“ Sie haben 20 Nummer-eins-Hits geschrieben, die meisten für Capital Bra und Bonez MC, aber auch für Bushido, Bausa, Ufo 361, RAF Camora, Shirin David und andere.