Vielleicht hätte man diese Videos dem Chairman von Newcastle United zeigen sollen? Einmal die Szene, wie der Mittelstürmer des VfB Stuttgart mit dem Rücken zum gegnerischen Tor steht, wie er ausholt und den Ball mit der Hacke millimetergenau ins Toreck befördert. Oder eine Woche später, ein kleiner Pass auf diesen Mittelstürmer, ein scharfer Haken, ein kleiner Lauf und dann dieser Heber, der ein kurzes, aber feines Leben hatte. Und dabei ebenfalls millimetergenau ins Ziel fand.
Dieses perfekte Bewerbungsvideo gab es allerdings noch nicht, als der saudische Großfunktionär Yasir bin Othman Al-Rumayyan Ende August den ausführenden Sportexperten bei Newcastle United eine klare Ansage machte: Bringt mir einen der besten Mittelstürmer Europas, Preis fast egal! Al-Rumayyan war extra zu einem Premier-League-Match angereist, unter anderem, um seiner Entourage stolz diesen Klub vorzuführen, der sich zu 80 Prozent im Besitz des saudischen Staatsfonds befindet. Und dann war dieser Abend so unverschämt, Newcastle gegen Liverpool verlieren zu lassen, und außerdem zickte auch noch der Mittelstürmer Alexander Isak rum, der ausgerechnet nach Liverpool wollte.
FC Liverpool
:Wirtz fremdelt noch mit dem Premier-League-Fußball
Erste Kritik wird laut an den Leistungen, die Florian Wirtz beim FC Liverpool zeigt. Dabei gibt es mehrere Ursachen, weshalb er in England noch an seine Grenzen stößt.
Im Blitzverfahren wurde dann der Stuttgarter Nick Woltemade herbeigeschafft, heiß empfohlen von den Sportstrategen im Verein. Was wohl passiert wäre, wenn sie dem Chairman die beiden Tore – Hacke, Heber – von Ermedin Demirovic hätten zeigen können?
Der VfB Stuttgart hätte Demirovic bei einem sehr guten Angebot wohl gehen lassen
Aus heutiger Sicht ist es für den VfB Stuttgart ein rechtes Glück, dass sich diese beiden Treffer erst nach Schließung des Transfermarktes ereigneten. Wobei: Eine Zeitlang hätten manche im Umfeld und vielleicht sogar im Inneren des VfB entschlossen „ja, ich will!“ gerufen, wenn ein Newcastle dieser Welt „etwas Außergewöhnliches“ für Demirovic geboten hätte, wie es der Vorstandschef Alexander Wehrle im Fall Woltemade in herrlicher Penetranz formuliert hatte. Ein, zwei gewöhnliche Angebote soll der VfB für Demirovic erhalten haben, aber nichts, was einen nervös macht. Und dringend weg haben wollten die VfB-Bosse den Spieler ja nun auch nicht, es konnte nicht schaden, einen in der Bundesliga bewährten Angreifer im Kader zu haben. Demirovic würde schon auf seine Einsatzzeiten kommen, natürlich hinter Woltemade und Deniz Undav.
Am Donnerstagabend startet der VfB Stuttgart in die neue Saison der Europa League, für die sich die Schwaben als DFB-Pokalsieger qualifiziert haben. Ein kleiner Rückblick auf dieses Endspiel genügt, um die Kuriosität der Demirovic-Geschichte zu verstehen: Stuttgarts Tore beim 4:2-Sieg gegen Arminia Bielefeld wurden von Enzo Millot (2), Woltemade und Undav erzielt, Demirovic wurde nicht besonders gebraucht und erst in der 69. Minute eingewechselt. Keiner der drei Torschützen wird nun aber dabei sein, wenn der VfB am Donnerstag Celta Vigo empfängt, Woltemade und Millot haben den Klub verlassen, Undav fehlt verletzt. Stuttgarts Hoffnungen auf einen gelungenen Start in die nächste europäische Kampagne ruhen nun auf Ermedin Demirovic, dessen Qualitäten den Attributen ähneln, mit denen auch die Elf von Celta Vigo beschrieben wird: nicht unbedingt filigran, aber zuverlässig, stabil und unangenehm kompakt. Und – siehe Hacke, siehe Heber – technisch deutlich versierter, als man denkt.
Trainer Hoeneß mag eigentlich technische Stürmer. Jetzt setzt er auf den körperlichen Demirovic
Es ist eine lakonische und deshalb sehr lustige Pointe, dass der Kämpfer Demirovic bei Stuttgarts jüngstem 2:0 gegen St. Pauli die abwesenden Künstler aufs Präziseste gedoubelt hat. Das Hebertor zum 1:0 war ein Nick-Tor, wie Woltemade seine Törchen manchmal schmunzelnd nennt; und die lässige Direktablage vor dem 2:0 durch Zugang Bilal El Khannouss sah zu gleichen Teilen nach Woltemade und Undav aus. Dass Demirovic mit 27 noch zum Woltemirovic wird, ist zwar nicht zu erwarten, dennoch lässt sich hier eine alte Geschichte mit schönen, neuen Bildern unterlegen.
Im Fall Demirovic zeigt sich, wie ein Spieler an seiner Verantwortung wachsen kann. Gerade für einen Stürmer bedeutet es einen fundamentalen Unterschied, ob er von seinem Trainer halt als erster Einwechsler geschätzt wird; oder ob ihn derselbe Trainer mit Führungsaufgaben und der Kapitänsbinde ausstaffiert. Nicht beweisbare, aber bestimmt wahre These: Ein in der 69. Minute eingewechselter Demirovic hätte so ein Hebertor nicht geschossen, weil er es sich nicht zugetraut hätte. Oder weil er gedacht hätte, dass der Trainer es ihm nicht zutraut.
Fürs Erste lässt sich sagen, dass Trainer Sebastian Hoeneß zu seinem Glück gezwungen wurde. Der feine Kombinationsfußball, den er bevorzugt, verlangt eigentlich nach technischen Stürmern, aber nun setzt er alles auf den körperlichen Demirovic. Einerseits, weil er muss und es seinen Vorgesetzten am letzten Transfertag nicht mehr gelang, einen Woltemade-Nachfolger ins Haus zu holen; aber schon auch, weil er’s will. „Eine Eins mit Sternchen“ habe sich Demirovic für seine Leistung gegen St. Pauli verdient, sagte Hoeneß am Mittwoch in der Pressekonferenz vor dem Europa-League-Spiel. Auch auf dem Podium: Demirovic, sein Kapitän.
Wie es aussieht, überzeugen sich hier ein Trainer und sein Stürmer gerade gegenseitig voneinander, was eine schöne, aber nicht ganz ungefährliche Geschichte ist. Einen weiteren Mittelstürmer gibt es in diesem Kader vorerst nicht, und so wird Hoeneß entscheiden müssen, ob er Demirovic bis zu Undavs Rückkehr zum Allesspieler macht. Oder ob er seinem Athleten auch mal ein paar Pausen gönnt und ihn, zum Beispiel, erst in der 69. Minute einwechselt.