Die Vorstellung, in fünf Jahren ließe sich aus Berlin eine menschenfreundliche Stadt machen, ist eine kühne gedankliche Transferleistung. Aber gut, lassen wir die Fantasie spielen und geben wir uns ein paar illusorischen Träumereien hin (und vergessen wir kurz, wie unendlich gut wir es in Berlin haben – trotz allem).
Es muss etwa 2011 gewesen sein, als ich nach einem verschneiten Winter meinen geliebten 124er-Mercedes verkauft habe. Ich hatte ihn im Eis und im Schnee für Wochen, nein Monate, nicht bewegt und angefangen, die meisten Strecken, vor allem aus Kreuzberg nach Mitte, zu Fuß zurückzulegen. Es gefiel mir.
Auch die U-Bahn und die S-Bahn begann ich zu nutzen, und als es wieder wärmer wurde, fehlte mir die Lust, mich wieder ans Steuer zu setzen. Das Leben ohne Auto schien sehr viel angenehmer zu sein. (Zweiräder in der Stadt lehne ich ab. Aus Selbsterhaltungstrieb.)
Malakoff Kowalski ist Musiker und Komponist. Er machte bereits Studioalben, Film- und Theatermusik. Sein neustes Album ist „Songs With Words“.
Ich bin, das muss man so sagen, ein freiwilliger Fußgänger. Ein freiwilliger Fahrgast in Bussen und Bahnen. Ich habe keine Kinder, ich habe keine fehlenden Körperteile, ich habe noch kein hohes Alter und als Musiker und Komponist habe ich auch keine festen Arbeitszeiten. Wovon ich allerdings immer geplagt bin: Empathie. Sehe ich ein Lebewesen in Not, empfinde ich Mitgefühl. Das Leid des Anderen bewegt mich.
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Bin ich zu Fuß von einem Stadtteil in einen anderen unterwegs, sagen wir, um in mein Aufnahmestudio zu gelangen, erlebe ich als Außenstehender die hässlichsten Auseinandersetzungen, wenn Fahrradfahrer und Automobilisten sich bekriegen. (Im Slalom dazwischen Elektroroller, aber dazu später mehr.) Das Maß an Rücksichtslosigkeit auf dem Asphalt ist einem humanistisch aufgeklärten Menschen kaum zuzumuten. Und ich habe hierbei zunächst einmal nur den Straßenkampf im Sinn.
Wunsch Nummer 1 fürs Jahr 2030: schreit euch nicht dauernd an, seid umsichtig, haltet auch mal an, obwohl ihr es nicht müsstet, haltet euch an grüne und rote Ampeln und seid keine Arschlöcher.
Gewaltfantasien in der Bahn
Verlasse ich die Straße und ich gehe in den Untergrund, beginnt die Gängelung von oben. In der U-Bahn sehe ich Familien mit Kinderwägen, ich sehe alte Menschen, ich sehe Kranke und Leute mit gebrochenen Beinen, ich sehe Reisende mit Koffern, ich sehe Musiker mit schweren Instrumenten und Menschen, die mit überfüllten Tüten ihre Einkäufe nach Hause schaffen.
Ich stehe dann am Gleis, mit einem luftigen Beutel in der Hand oder einer leichten Schultertasche, schaue mich um, und frage mich, wie diese armen gequälten Leute es über weite Strecken ohne Rolltreppen und Fahrstühle durch das Bahnnetz schaffen? Entweder sie fehlen grundsätzlich oder sie sind ständig außer Betrieb.
Serie „Berlin 2030“
In unserer Serie „Berlin 2030“ wollen wir konstruktive Lösungen für die Herausforderungen der Hauptstadt finden und dabei helfen, positiv in die Zukunft zu schauen. Dafür sprechen wir mit Vordenkerinnen und Visionären, mit Wirtschaftsvertretern, mit Kulturschaffenden, mit Stadtplanern, mit Wissenschaftlerinnen und Politikern.
In Gastbeiträgen fragen wir sie nach ihrer Vision für Berlin. Wie soll Berlin im Jahr 2030 aussehen? Welche Ideen haben sie für die Zukunft unserer Stadt? Und welche Weichen müssen dafür jetzt gestellt werden?
Die Beiträge der Serie stammen unter anderem von Kai Wegner, Renate Künast, Ulrike Demmer, Tim Raue, Mo Asumang und Christian Schertz. Alle bisher erschienen Beiträge finden Sie hier.
Sie haben auch eine Idee? Schicken Sie uns Ihre Vorschläge an: checkpoint@tagesspiegel.de.
Habe ich zwei, drei Koffer dabei, um eine Reise am Hauptbahnhof oder am Flughafen anzutreten, habe ich Gewaltfantasien. Ich stelle mir dann vor, wie es wäre, sich in Michael Douglas aus „Falling Down“ zu verwandeln und Funktionäre aus Ämtern und Verkehrsbetrieben, Politiker, Umwelt-Aktivisten und Mobilitätsvordenker zu zwingen, sich einen Tag lang nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch die Stadt zu bewegen.
Ihnen abzuverlangen, die umständlichen Beschilderungen zu dechiffrieren. Sie mit Gepäck oder Rollator Treppen steigen zu lassen. Sie im Rollstuhl in Fahrstühle zu quetschen, die so träge sind, dass man Angst vor ihnen hat und die so verkeimt sind, dass selbst ein Gesunder krank wird, wenn er sie betritt. Sie mit Ersatzverkehr und einem Cello auf dem Rücken zur Hölle zu schicken, statt an ihr Ziel.
Ich sehe das alles und denke entsetzt: Was, wenn meine Entscheidung, kein Taxi zu nehmen, keine freie Wahl, sondern eine zwingende Realität wäre für mich? Wie kann man weite Teile der Gesellschaft im öffentlichen Raum einfach sich selbst überlassen und den Leuten ihren täglichen Hürdenlauf so unfassbar schwer machen? Wie kann man in einem Wohlstandsland so ignorant und sadistisch sein? Oder um John Lennon zu zitieren: „How do you sleep at night?“
Keine Feinde, keine Leih-Tretroller, kein Koma
Kein Tag vergeht ohne die dümmliche Worthülse „Mobilitätswende“ in den Nachrichten. Wovon reden die alle? Die rudimentärsten Dinge sind in Berlin nicht gegeben. Die aufgekratzte Stimmung der Menschen hat nicht nur mit dem Klimawandel, mit Inflation und Armut, mit Krieg und mit den Rechten zu tun.
Es reicht schon, einfach nur mit den „Öffentlichen“ von A nach B zu wollen. Sie strecken dich nieder, noch bevor du weißt, welche Haltestelle du gerade verpasst hast, weil der Zugführer zwar zum brüllenden Herumkommandieren die Sprechanlage zu nutzen weiß, nicht aber, wenn die Halt-Anzeige, wie so oft, spinnt und der Fahrtrichtung entgegengesetzt abläuft.
Wunsch Nummer 2 wäre demnach: Bitte versteht, dass Fahrgäste keine Feinde, sondern Mitmenschen sind. Zahlt weniger Geld an eure Werbeagenturen und baut dafür lieber Rolltreppen und Aufzüge. (Und schaut mal nach Wien, Paris oder New York und lasst euch dort erklären, wie man Schilder und Tafeln so gestaltet, dass Informationen verstanden und nicht verschleiert werden.)
Wunsch Nummer 3: Verbietet diese unsäglichen elektrischen Leih-Tretroller. Auch hier könnte ein Blick nach Paris helfen. Sie haben die Dinger kategorisch abgeschafft. Denkt nicht drüber nach. Tut’s einfach. Sie sind die Pest und alle wissen es.
Mehr Visionen für Berlin 2030 Aletta von Massenbachs Vision für Berlin 2030 „Reisen und Freiheit gehören zusammen“ Lena Urzendowskys Vision für Berlin 2030 „Ich glaube, manchmal muss man die Menschheit zu ihrem Glück zwingen“ Christian Schertz’ Vision für Berlin 2030 „Die Justiz digital aufrüsten und personell verstärken“
Sicher ließe sich noch mehr finden, über das es lohnenswert wäre nachzudenken, aber eine Stadt ist kein Wunschkonzert, sie ist ein komplexer Zombie-Organismus, der nur durch Wunder allein am untoten Leben gehalten wird. Je schöner und größer und freier und exaltierter, desto umfassender die Widersprüche, die Konflikte und die Überspannungen. Jede Großstadt ist ein Moloch und sie verschlingt uns alle. Den Einen mehr, die Andere weniger. Aber am Ende gewinnt immer die Stadt. Sie war schon vor uns da, und sie bleibt auch, wenn wir unter die Erde gehen.
Hätte ich bis dahin noch einen letzten – vierten – Wunsch frei, eine carte blanche, so richtig wahllos und aus dem Bauch heraus: Holt die Friedrichstraße aus dem Koma zurück!