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Stand: 25.09.2025 15:37 Uhr

Über Jahre wurde ein Gel-Implantat unter anderem zur Brust- und Gesäßvergrößerung genutzt, das offenbar schwerwiegende Komplikationen auslöst. Deutsche Behörden schritten nicht ein – obwohl sie die Probleme kannten.

Von Sigrid März, Martin Rücker und Katrin Kampling, NDR

Sicherer könnte ein Schönheitseingriff kaum sein: Das versprach die Werbung für ein Gel-Implantat, das rund zehn Jahre in Deutschland eingesetzt wurde. Es sei leicht zu injizieren, biokompatibel und nach drei bis fünf Jahren vollständig abgebaut. Zwar ist das Implantat im Moment nicht mehr auf dem Markt, aber auf diese Versprechen vertrauten viele Tausende Frauen und Männer in Deutschland – und sie kämpfen heute mit den Folgen, wie eine Recherche von Investigativstation und dem NDR ergab.

Wie auch Alena* (*Name von der Redaktion geändert) aus dem Landkreis Rostock in Mecklenburg-Vorpommern. Die Handwerkerin wünschte sich einen runderen Po und ließ sich das Gel-Implantat „Los Deline“ in einer Berliner Schönheitsklinik injizieren. „Ich habe den Ärzten vertraut. Ich dachte, das ist so harmlos“, sagt sie heute.

Ihre Ärztin warb damit, dass „Los Deline“ „biokompatibel“ sei, sich innerhalb einiger Jahre langsam abbaue und „keine Schäden“ im Gewebe verursache. Sie spritzte das Gel-Implantat wohl Hunderten Patienten und vertrieb es auch an andere Kliniken. Auch andere Praxen warben mit dem Versprechen des Herstellers, dass das Gel zu rund 98 Prozent aus Wasser bestehe, der Rest sei ein Copolyamid. So schrieb eine Hamburger Schönheitsklinik auf ihrer Webseite: „Der Eingriff hinterlässt keine Spuren und am nächsten Tag ist alles wie immer, nur schöner.“

Heute hat Alena, wie viele andere Betroffene, eine Odyssee hinter sich. Denn ihr Po entzündete sich, sie musste mehrfach operiert werden und rund zwei Jahre lang fast durchgehend Antibiotika nehmen.

Schwere Komplikationen

Komplikationen traten häufig erst Jahre nach der Injektion auf. Der Filler verklumpte, wanderte durch den Körper, löste teils schwere Entzündungen aus. Betroffene berichten von tennisballgroßen Beulen am Rücken, obwohl das Gel-Implantat ins Gesäß gespritzt wurde. Sie zeigen Aufnahmen von eitrig-gelben Flüssigkeiten, die aus offenen Stellen laufen. Ärzte finden Filler in den Schamlippen, um den Darm herum, am Rücken, in der Leiste, in den Beinen. Teils sind die Komplikationen lebensgefährlich.

Dabei hätten solche Schäden durch behördliches Eingreifen verhindert werden können. Bereits ab 2016 warnten wissenschaftliche Veröffentlichungen vor Komplikationen in Verbindung mit dem Gel-Implantat. Ab 2017 mehrten sich die Berichte.

Das Gel-Implantat hat einen Namenswechsel hinter sich. Von 2011 bis 2017 wurde es unter dem Namen „Aquafilling“ vom Hersteller Matrixcell verkauft. Ab 2017 wurde es als „Los Deline“ vom Hersteller Biotrh vertrieben. Zentrale Verantwortliche hinter den Firmen sind identisch, ebenso wie die Zusammensetzung der Produkte.

„Aus meiner Sicht ist der Filler komplett ungeeignet für menschliches Gewebe“, sagt der Gesichtschirurg Niels Christian Pausch vom Uniklinikum Leipzig. Er hatte 2018 eine Studie begonnen, um das Gel-Implantat an Patienten mit einer Gaumenspalte oder Narben nach einer Tumor-OP im Gesicht zu testen – und brach die Studie ab. Mehr als zwei Drittel der 16 Probanden zeigten Komplikationen wie Abszesse, Entzündungen und migrierendes Gel.

Behörde hätte eingreifen können

Anfang 2021 erhielt dann die zuständige deutsche Aufsichtsbehörde, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die erste von bis heute 20 so genannten Vorkommnismeldungen. So weisen Ärzte und Patienten auf auffällige Komplikationen mit Medizinprodukten wie Implantaten hin. Weil die ersten Meldungen „Aquafilling“ betrafen, handelte das BfArM nicht. Der Filler sei nicht mehr auf dem Markt, das Unternehmen gebe es nicht mehr. Damit war der Fall für die Behörde erledigt.

Dabei war der Namenswechsel bekannt – und polnische Behörden hatten „Los Deline“ bereits 2020 in Polen vom Markt genommen: nach einer „Reihe von Fällen lebensbedrohlicher und gesundheitsgefährdender Komplikationen“ mit dem Vorgänger „Aquafilling“. Laut dem Berliner Medizinrechtsanwalt Jörg Heynemann ist das ein typisches Problem in Deutschland. Es passiere oft, dass Hersteller „das identische Produkt unter einem neuen Namen auf den Markt bringen – und dann geht das ganze Prozedere beim BfArM von vorne los“. Dass Tausende das offenbar fehlerhafte Produkte in sich trügen, spiele bei der Fallbewertung der Behörde ebenfalls keine Rolle, kritisiert er. Auf Anfrage sieht das BfArM kein Versäumnis auf seiner Seite.

Ab Ende 2021 trafen beim BfArM jedoch auch Meldungen zu „Los Deline“ ein. In mehreren Fällen habe man daraufhin beim Hersteller Biotrh nachgefragt, erklärt das BfArM – dieser habe bestätigt, dass mögliche Komplikationen „im akzeptablen Bereich seiner Risikoanalyse“ lagen. Das Fazit der Behörde: „Korrekturmaßnahmen waren daher auf Basis der dem BfArM vorliegenden Informationen nicht indiziert.“

Andere europäische Behörden reagieren

Dabei hätte die Behörde, wie andere europäische Pendants, beim Zertifizierer nachfragen können. Hersteller müssen ihre Medizinprodukte – vor allem die der höchsten Risikoklasse 3 – von einer benannten Stelle prüfen lassen. Das sind von der EU zugelassene Prüfinstitute wie etwa der TÜV oder die Dekra; sie stellen nach der Prüfung CE-Zertifikate aus, mit denen der Verkauf der Produkte in der EU erlaubt ist. Sowohl für „Aquafilling“ als auch „Los Deline“ gab es solche Zertifikate.

Prüfstelle entzieht „Los Deline“ 2023 Zertifizierung

Für „Los Deline“ hatte die türkische Prüfstelle Szutest die Marktfähigkeit bescheinigt. Nach den Meldungen anderer europäischer Aufsichtsbehörden – nicht des BfArM – gab Szutest das Produkt ins Labor. Die Messung fand Polyacrylamid. Szutest entzog „Los Deline“ daraufhin das Zertifikat, im Herbst 2023 kam es zum europaweiten Rückruf.

Polyacrylamid wurde bereits in den 1990er-Jahren in Medizinprodukten der Schönheitsbranche eingesetzt. Fast genauso lange sind zum Teil schwere Nebenwirkungen bekannt. Ab 2006 später verbannte beispielsweise China Polyacrylamid aus Produkten zur Brustvergrößerung, bis dahin erhielten laut Schätzungen etwa 200.000 Frauen Injektionen mit Polyacrylamid-haltigen Gelen in die Brust. In den USA bekamen derartige Filler erst gar keine Zulassung.

Doch mit dem Aus für „Los Deline“ ist das Problem der Gel-Implantate in Deutschland noch lange nicht erledigt. In den kommenden Jahren dürften Tausende weitere Betroffene auftauchen, da die Komplikationen verzögert auftreten. Wie viele solcher Fälle es aktuell gibt, weiß niemand, Fachleute sprechen von Tausenden bis Zehntausenden potenziellen Betroffenen. Zudem wehrt sich Hersteller Biotrh laut eigener Aussage vor Gericht gegen den Entzug des Zertifikats, der Hersteller hält das „Los Deline“-Implantat weiterhin für sicher.

Probleme könnten sich wiederholen

Dass sich die Probleme wiederholen, ist auch keineswegs ausgeschlossen. Zwar wurde die europäische Medical Devices Regulation 2021 verschärft, so müssen Hersteller klinische Daten zur Sicherheit ihrer Medizinprodukte vorlegen – doch die gab es auch schon für „Aquafilling“. Auch weiterhin suchen sich die Firmen ihre Prüfstelle selbst aus. „Aquafilling“ und „Los Deline“ waren von zwei unterschiedlichen Stellen offenbar problemlos zertifiziert worden. Zudem könnten die Regelungen künftig wieder gelockert werden, da Hersteller über die bürokratischen Hürden klagen.

„Ich kann einfach nicht verstehen, warum das Produkt in Deutschland zugelassen worden ist“, sagt Handwerkerin Alena heute. Für ihre vielleicht lebensrettenden Operationen musste ihre Ersparnisse zur Altersvorsorge aufbrauchen, denn in der Regel zahlen die Krankenkasse solche Eingriffe nicht. Neben den körperlichen – und psychischen – Folgen quälen Betroffene deshalb finanzielle Sorgen und die Angst vor einer ungewissen Zukunft.

Die komplette Recherche von Panorama 3 sehen Sie hier.