Stand: 26.09.2025 05:37 Uhr

Zwei junge Brüder aus Afghanistan waren drei Jahre auf der Flucht. Einer überlebte einen Talibanangriff schwer verletzt. Wie sie gemeinsam in Stuttgart ein neues Leben begannen.

Auf der Terrasse im Gebrüder Schmid Zentrum, einem Mehrgenerationenhaus in Heslach, sitzen etwa 40 Menschen an einem großen runden Tisch. Sie treffen sich, weil sie deutsch lernen wollen. Darunter sind viele Geflüchtete. Naser Rostami ist Mitbegründer des Cafés und sitzt im Rollstuhl. Ihm und seinem Bruder habe ein Sprachcafé gefehlt, als sie vor dreizehn Jahren in Deutschland ankamen, so der 34-Jährige. Denn nur alleine studieren reiche nicht. „Man muss mit Menschen Kontakt aufnehmen.“ Eine Hilfseinrichtung für traumatisierte Geflüchtete der Caritas Stuttgart OMID half den beiden jungen Afghanen in Deutschland Fuß zu fassen.

Als Naser aus Afghanistan flüchtete, war er 18 Jahre alt, sein Bruder Toofan gerade mal 14. Die Taliban hatte die Familie zu Feinden erklärt, denn ihr Vater lieferte Lebensmittel ins NATO-Hauptquartier in Kabul. Bei einem Angriff der Taliban wurde er schwer verletzt. Als Naser die Aufgabe seines Vaters übernahm, schossen ihm Taliban-Milizen gezielt in den Rücken. Naser lag 76 Tage im Koma und ist seither querschnittsgelähmt.

Ich habe damals Menschen auf der Straße gefragt, ob sie mir helfen würden Deutsch zu lernen.
Naser Rostami, Geflüchteter

Nach Angriff der Taliban war Naser querschnittsgelähmt

Sein Vater entschied, Naser und sein Bruder Toofan sollten fliehen, nach Großbritannien oder Deutschland. Dort hatte man Kontakte. Schlepper führten die Brüder in den Iran. Toofan trug den vier Jahre älteren Bruder über die gebirgige Landschaft.

Nasers Zustand verschlechterte sich. Die Wunden waren tief und eitrig, desinfizierende und schmerzstillende Medikamente gab es nicht. Als sie sechs Monate später in der Türkei ankamen, wurde Naser in eine Klinik eingeliefert und zwei Mal operiert.

Ich habe ihn auf dem Rücken getragen, mit dem Auto kannst Du dort nicht fahren. Das ist alles illegal.
Toofan Rostami

„Die Schmerzen waren so unerträglich, dass ich manchmal nicht glauben kann, dass ich noch am Leben bin“, sagt Naser. Toofan hört zu und lächelt. Sie sind eng miteinander verbunden. Auch in Deutschland helfen sie sich im Alltag zurechtzukommen. Das gibt ihnen Halt und Geborgenheit. Wie damals auf der Flucht, erinnert sich der heute 27-jährige Toofan.

Damals war Toofan noch minderjährig. Er frage sich heute noch, wieso sie das alles durchmachen mussten. Sie wollten doch wie alle Jugendlichen zur Schule gehen und einen ganz normalen Alltag erleben. Als es Naser in der Türkei besser ging, wagten sie die Fahrt übers Mittelmeer nach Griechenland. Das kostete sie fast das Leben. Danach entschieden sie, Toofan solle allein weiterziehen und Naser später nachkommen. Sie sorgten sich um ihre Eltern, denn sie hatten keinen Kontakt mehr und konnten sie nicht mehr um Rat fragen. Also hielten sie sich an die Absprache und das vereinbarte Ziel. Schlepper führten Toofan und hunderte Migranten über Mazedonien, Serbien, Bosnien, Albanien, Bulgarien und Ungarn nach Österreich.

Von hunderten Flüchtlingen seien nur fünf angekommen, so Toofan. Er sei 27 Tage gelaufen und habe viele Male den Tod gesehen. Naser kam erst Monate später nach Deutschland. Die Brüder waren schwer traumatisiert, aber froh einander wieder zu haben. „Wir waren über drei Jahre auf der Flucht und haben überlebt. Das ist unglaublich. Jemand muss uns lieben, grundlos. Wir glauben an Gott, an Allah und wir haben uns gegenseitig gerettet.“ Naser lächelt. Er sei auch gläubig, aber es gehe auch darum, einfach weiterzumachen, sich zu sagen: „Ey, ich bin wertvoll.“

Ich habe auf der Flucht viele Male den Tod gesehen.
Toofan Rostami

Projekt OMID bietet therapeutische Hilfe in Stuttgarter Flüchtlingsunterkünften

Naser und Toofan fanden Hilfe bei OMID, einem niederschwelligen Therapieangebot der Caritas. Mitarbeitende der Organisation bieten in Flüchtlingsunterkünften niederschwellige therapeutische Beratungsgespräche an. Erst einige Zeit nach seiner Ankunft in Deutschland sei alles hochgekommen, erzählt Toofan, er sei jede Nacht aufgestanden, hatte Panikattacken und Kopfschmerzen. Ohne Hilfe wäre er nicht klargekommen. „Da habe ich mich immer sicher gefühlt, weil ich dachte, ich bin nicht alleine. Jemand, der sagt, du hast es bisher geschafft, du schaffst es auch weiter“.

Das Modell OMID ist bundesweit einzigartig und wird von der Diözese Rottenburg-Stuttgart, der Caritas und der Stadt Stuttgart finanziert, erklärt Sabrine Gasmi-Thangaraja. Die Soziologin und Islamwissenschaftlerin leitet den Bereich Migration beim Caritasverband. Dazu gehört auch die Geflüchtetenhilfe. Einen Therapieplatz zu bekommen sei für alle schwierig, erklärt Sabrine Gasmi-Thangaraja, aber für Flüchtlinge – vor allem in den ersten drei Jahren – so gut wie unmöglich, denn der Zugang werde durch das Asylbewerberleistungsgesetz in den ersten 36 Monaten erschwert.  

Jeder dritte Flüchtling benötigt therapeutische Hilfe

Etwa 30 Prozent der Schutzsuchenden in Deutschland benötigen therapeutische Unterstützung, doch nur knapp vier Prozent können in den insgesamt 51 psychosozialen Zentren für Geflüchtete und Folteropfer versorgt werden. Für mehr Menschen reichen die Versorgungskapazitäten nicht aus. Der Bund plant darüber hinaus die finanziellen Mittel im nächsten Haushaltsjahr von elf auf sieben Millionen Euro zu kürzen.

Doch ohne die therapeutischen Hilfsangebote hätten wir es nicht geschafft, erklären Toofan und Naser Rostami. Heute sind beide in Deutschland eingebürgert. Toofan hat geheiratet und eine kleine Tochter. Der heute 27-Jährige macht seinen Meister bei einem Netzbetreiber für Strom, Gas und Wasser in Baden-Württemberg. Die Brüder konnten ihre Mutter und ihren schwerverletzten Vater aus Afghanistan nach Deutschland holen.

Und Naser? Er arbeitet in dem Projekt „MuT!“ für Menschen mit Behinderung mit Fluchterfahrung und wurde vor zwei Jahren für sein gesellschaftliches Engagement zum „Stuttgarter des Jahres“ gewählt.

Sendung am So., 28.9.2025 12:04 Uhr, Glauben, SWR Kultur

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