Einen Preis entgegenzunehmen, ist eine neue Erfahrung für Kurt Tallert. In der Öffentlichkeit zu stehen, nicht: Das tut der 39-Jährige längst als Musiker und Produzent unter dem Namen Retrogott. Nun aber hat er sich als Autor nicht nur ein neues Genre erobert, sondern mit seinem Buch „Spur und Abweg“ auch den Uwe-Johnson-Förderpreis, der alle zwei Jahre für ein herausragendes Prosa-Debüt vergeben wird.
„Sampling“ auf Spurensuche in Biografie des Vaters
Als ästhetische Gemeinsamkeit zwischen HipHop und Literatur beschrieb Kurt Tallert bei der Preisverleihung am Freitagabend in Neubrandenburg, sich mit Vergangenem auseinanderzusetzen und aus vorhandenem Material etwas Neues zu erschaffen.
Dem „Sampling“ seines Buches liegt eine Spurensuche in der Biografie seines Vaters und deren Wirkung auf sein eigenes Selbstverständnis zugrunde. Aus Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Notizen, Dokumenten rekonstruiert er das lebenslange Trauma des von den Nazis als „Halbjude“ geschmähten Harry Tallert (1927-1997): den Verlust von Zugehörigkeit, das Leiden unter einer ihm zugeschriebenen Identität.
Erstmals in der 20-jährigen Geschichte des Uwe-Johnson-Förderpreises, den die Mecklenburgische Literaturgesellschaft (MLG) gemeinsam mit dem Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg und der Berliner Kanzlei Gentz vergibt, ist das Preisträgerbuch kein Roman. Als „autobiografischen Essay mit belletristischen Ambitionen und autofiktionalen Anleihen“ beschreibt Tallert es in seiner Dankesrede und bekennt, als Nächstes durchaus auch Lust auf einen Roman zu haben.
Bewusste Abwege von der vorgezeichneten Spur
Als „poetisch und lakonisch zugleich“ würdigt Laudatorin Annette Leo die Sprache des Preisträgers und bekennt, von dessen Buch überrascht worden zu sein: „Wovon er erzählt, ist mir vertraut – dachte ich jedenfalls“, sagte die Historikerin und Autorin, deren Vater ebenfalls aus einer jüdischen Familie stammte.
Doch Kurt Tallert blicke aus einer ganz anderen Perspektive auf die NS-Zeit, und das nicht nur aus der größeren Distanz der nächsten Generation. Er entwickle einen „Strom des Erinnerns, der keineswegs geradlinig verläuft“. Die titelgebende Spur sei nicht nur als hinterlassenes Zeichen zu verstehen, eher als vorgezeichnete, „gespurte“ Loipe, die bewusst um der Abwege willen verlassen werde.
Hochkarätige Lesereihe und Preisträger-Schar
Dem Namenspatron des Preises wäre Kurt Tallert ganz sicher sympathisch gewesen, weil er „hinter die Kruste des Gewesenen“ schaue, befand Germanist Prof. Carsten Gansel, Vorstandsvorsitzender der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft. Den Schriftsteller Uwe Johnson (1934-1984) dem Lesepublikum seiner Heimat nahe zu bringen, hat sich die Vereinigung mit den seit 1994 ausgerichteten Uwe-Johnson-Tagen auf die Fahnen geschrieben – die diesjährige Reihe bietet bis Mitte November Veranstaltungen unter anderem mit Helga Schubert, Gitta Lindemann, Jakob Hein und Charly Hübner auf.
Zum 1995 ins Leben gerufenen Uwe-Johnson-Preis, den bislang unter anderem Walter Kempowski, Christoph Hein, Christa Wolf, Lutz Seiler, Jenny Erpenbeck und zuletzt Iris Wolff erhielt, gesellte sich 2005 im jährlichen Wechsel der Förderpreis für literarische Debüts, die „ebenso unbestechlich und jenseits der ,einfachen Wahrheiten‘ deutsche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft reflektieren“.
Signal gegen „Verdumpfbackung“
So auch Kurt Tallert, der ein „in mehrfacher Hinsicht außergewöhnliches Buch“ geschrieben habe, so die Jury: „Er füllt beim Erzählen Leerstellen der Vergangenheit und wählt Abwege der Erinnerung, um der Spur seines Vaters folgen zu können. Die Spur verläuft quer durch die Gegenwart.“
Dank zollt Tallert denn auch der Anerkennung für sich ebenso wie für seinen Vater. Das Vergessen aufzuhalten, sei „Aufgabe jeder Generation“, fordert er: „Wenn man den Kampf aufgibt, siegt die Verdumpfbackung der Debatte.“
„Spur und Abweg“ ist erschienen im DuMont Buchverlag, Köln (240 Seiten, ISBN 978-3-7558-0525-0).
Reihenweise LiteraturSo gehen die Uwe-Johnson-Tage weiter
2. 10., Stadtarchiv Neubrandenburg: „Aus dem (verschwiegenen) Innenleben der DDR“ – Aram Radomskis Filme und der Weg zur Wende
7. 10., Frau Rilke Buchladen Neustrelitz: „Schwebende Lasten“ mit Annett Gröschner
8. 10., Kunstsammlung Neubrandenburg: „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“ mit Helga Schubert
9. 10., Kulturquartier Neustrelitz: „Meine Fensterplätze“ mit Gitta Lindemann
23. 10., Regionalbibliothek Neubrandenburg: „Die vorletzte Frau“ mit Katja Oskamp
27. 10., Kunstsammlung Neubrandenburg: „Zärtlicher Regen, Erinnerung. Die Dichterin Eva Strittmatter“ – Film und Gespräch mit Leonore Brandt
30. 10., Stadtarchiv Neubrandenburg: „Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste“ mit Jakob Hein
6. 11., Stadtarchiv Neubrandenburg: „Medienskepsis in Ostdeutschland. Warum das Misstrauen in den Journalismus kein Erbe der DDR ist“ mit Michael Meyen
11. 11., Regionalbibliothek Neubrandenburg: „Angela Merkel. Zwischen Legende und Wirklichkeit – Die kritische Biografie“ mit Klaus-Rüdiger Mai
13. 11., Schauspielhaus Neubrandenburg: „Wenn du wüsstest, was ich weiß … Uwe Johnson – Der Autor meines Lebens“ mit Charly Hübner
14. 11., Uwe-Johnson-Bibliothek Güstrow: „Blitz aus heiterem Himmel“ mit Carsten Gansel