Kein Ort in Stuttgart ist so vielfältig wie der Ostendplatz. Was Anwohner schon geahnt haben dürften, ist dank einer wissenschaftlichen Studie nun für das Wahlverhalten erwiesen: An dem Kreisverkehr treffen nicht nur sechs Straßen, sondern auch alle politischen Milieus Stuttgarts aufeinander.
Der in Köln lehrende Wahlforscher Ansgar Hudde hat für sein im Campus-Verlag erschienenes Buch „Wo wir wie wählen“ die Bundestagswahlen 2021 und 2025 und hier vor allem die Ergebnisse aller deutschen Wahlbezirke analysiert. In Stuttgart gibt es 265 solcher Wahlbezirke. Diese Viertel mögen sehr unterschiedlich sein, doch am Ende wählen sie alle nach einem von vier Mustern, die Hudde herausgearbeitet hat.
Das am häufigsten vorkommende Wahlmuster nennt der Forscher „Typischdeutschland“; es entspricht weitgehend dem Gesamtergebnis der Bundestagswahl. In „AfD trifft Linke“-Vierteln haben die Populisten deutlich höhere Stimmenanteile, „grün-linke“ Nachbarschaften wählen ökosozial. Das Wahlmuster „konservativ“ mit hohen Werten für die Union tritt vor allem in Bayern auf.
Am Ostendplatz treffen fast alle Wahlmuster aufeinander
Bis auf „konservativ“ kommen am Ostendplatz alle Wahlmuster zusammen: Richtung Villa Berg und Neckar wählt der Osten „typischdeutsch“. Südlich der Haußmannstraße, Richtung Wagenburgtunnel und Innenstadt, kommen die Grünen auf 25 bis 30 Prozent, die Linkspartei auf rund 15 Prozent. Rund ums Leo-Vetter-Bad, zwischen Ostend- und Talstraße, punkten AfD und Linkspartei – sie holten bei der Bundestagswahl im Februar in diesem Wahlbezirk zusammen 35 Prozent der Stimmen. Dass drei Wahlmuster und damit auch drei teils völlig unterschiedliche Milieus aufeinandertreffen, gibt es sonst nirgendwo in Stuttgart.
Was spürt man davon am Ostendplatz? Die Mitarbeiterin des am Platz stehenden Kiosks erzählt von Diskussionen über Frauen, Ausländer und Hafermilch. Viele kämen wegen der Getränke aus der guten Kaffeemaschine. „Wir fragen immer, ob man mit Kuh- oder Hafermilch will“, sagt die Verkäuferin. Als Reaktion darauf kämen gelegentlich politische Diskussionen zustande: „Dann heißt es manchmal, das sei keine echte Milch.“ Einer komme Tag für Tag mit AfD-Kappe. Andere kauften regelmäßig Rubbellose und ärgerten sich jedes Mal aufs Neue, dass ihnen das Glück einmal mehr verwehrt bleibt.
Je homogener ein Viertel, desto enger das Weltbild
Die Landhausstraße führt mitten durch das Viertel, in dem man so abstimmt wie sonst nur in Teilen von Mühlhausen oder Mönchfeld. Warum wählt Ostheim wie die Vororte? Der Verkehr könnte ein Grund sein: Beim Abbiegen vom Ostendplatz kreischt die Straßenbahn, an der Talstraße bringen Autos Lärm und Schmutz. Auf den Klingelschildern dominieren ausländisch klingende Nachnamen. Richtung Ostendstraße trifft man in Raucherkneipen Menschen, die schon vormittags Schnaps trinken, vor einem Drogeriemarkt sitzen Bettler. Hin und wieder, sagt eine Polizeisprecherin, würden die Beamten zu Ordnungswidrigkeiten dorthin gerufen. Aber: Man kenne sich, der Umgang sei meistens respektvoll.
Vielfalt bedeutet ein Nebeneinander vieler Lebensrealitäten. Dazu gehören Menschen, die mit dem eigenen Leben vielleicht mehr Probleme haben als andere ebenso wie die Klientel, die bei Schwarzmahler hochpreisigen Kaffee kauft oder sich bei Ciao Claus Panini, Eis und Aperol Spritz schmecken lässt. Und alles dazwischen.
Ansgar Hudde, der Autor der Wahlstudie, hält so einen Mix für wichtig – gerade in einer Großstadt wie Stuttgart, die zerfällt in eine links-grün wählende City und tendenziell durchschnittlich wählende Außenbezirke mit AfD-blauen Sprenkeln. Noch dominieren die „typischdeutschen“ Wahlbezirke, bundesweit wie auch in Stuttgart. Doch ihre Zahl sinkt. Das könnte langfristig zum Problem werden, warnt Hudde – weil irgendwann womöglich „die Mehrheit der Bevölkerung in Nachbarschaften lebt, wo ein politisches Spektrum klar dominiert“. Je homogener ein Viertel, desto enger werde das Weltbild seiner Bewohner. Das, so Hudde, könne eigentlich keiner wollen.
Menschen in grün-linken Nachbarschaften verzichten häufiger aufs Auto
Auch Daten des städtischen Statistikamts zeigen deutliche Unterschiede zwischen den Vierteln entlang ihrer Wahlmuster. In den von AfD und Linkspartei dominierten Wahlbezirken haben 70 Prozent der Bewohner einen Migrationshintergrund, in ganz Stuttgart weniger als die Hälfte. In den „typischdeutsch“ wählenden Vierteln leben dreimal so viele Menschen im Eigentum wie in den AfD-/Linke-Vierteln (30 beziehungsweise 10 Prozent). Menschen in grün-linken Nachbarschaften verzichten wie häufiger aufs Auto: es gibt dort 480 Autos je 1000 Haushalte, in ganz Stuttgart sind es mehr als 700.
Noch nie habe er so viele Gleichgesinnte um sich herum gehabt wie zu der Zeit, in der er in der Münchner oder Kölner City gelebt habe, berichtet Hudde: „Diversität zählt zum Selbstverständnis der Menschen in den Innenstädten. Tatsächlich divers sind oft aber eher die Außenbezirke.“ Dort lebe man meist weniger in einer abgegrenzten Blase. In kleineren Städten ist die Durchmischung häufig ebenfalls größer – alles Teil von „Typischdeutschland“.
Beim Betreten des Ladens wird niemand nach der Gesinnung gefragt
Wie man damit umgehen kann, schildert Heiko Blocher. Der 46-Jährige betreibt seit sechs Jahren am Eduard-Pfeiffer-Platz sein Café Schwarzmahler. „Man merkt, dass sich in manchen Bereichen hier in Ost die Probleme des Landes besonders deutlich auswirken“, sagt er. Vor der jüngsten Bundestagswahl habe es eine politische Diskussion vor seinem Laden gegeben. Ein Stammkunde habe sich abwertend über Ausländer geäußert. „Dem habe ich das nächste Mal gesagt, dass wir in unserem Laden keinen Platz für so eine Meinung haben“, sagt er.
Trotzdem, sagt Blocher, werde man beim Betreten seines Ladens nicht nach der Gesinnung gefragt. Jeder sei willkommen. Das ginge auch gar nicht anders. Vor allem nicht am Ostendplatz.