„Greifen Sie zu, dann haben Sie immer etwas richtig gemacht“: Rainer Moritz empfiehlt Georges Simenon und viele andere in seinem neuen Buch.

„Greifen Sie zu, dann haben Sie immer etwas richtig gemacht“: Rainer Moritz empfiehlt Georges Simenon und viele andere in seinem neuen Buch.
 Foto: Seidel, Ralf

Schätzungsweise 70.000 neue Bücher erscheinen jährlich in Deutschland. Was also lesen? „Nicht unbedingt das, was gerade durchs Feuilleton genudelt wird“, rät Rainer Moritz. Denn in zwei Monaten ist der Hype vielleicht wieder vorbei. Viel angesammelt hat sich im Laufe seiner Lesebiografie. Allein auf 1200 gedruckte Rezensionen beziffert Moritz seinen Output als Kritiker. Ein Fundus, aus dem der 67-Jährige schöpfen kann.

Wie beispielsweise in seiner neuesten Publikation. „Das Jahr in Büchern. Literaturtipps für jeden Tag“ heißt sie und ist im Reclam Verlag erschienen. „Die besondere Serviceleistung ist, dass auch Schaltjahre inbegriffen sind“, wirbt der gebürtige Heilbronner augenzwinkernd. Soll heißen: 366 Leseanregungen hat Rainer Moritz versammelt, die er in einem Streifzug am Freitagabend im Literaturhaus vorstellt.

Rainer Moritz: „Riechen Sie an Büchern, dezent bitte, wenn es gestattet ist.“

Eine muntere One-Man-Show, die bestens ankommt im rappelvollen Trappenseeschlösschen. Wer keine Karte hatte, musste sich am Einlass in die Warteschlange einreihen. Gut eineinhalb Stunden bestreitet Moritz, der begnadete Literaturverführer, gewitzte Selbstvermarkter und hemmungslose Bibliophile – „Riechen Sie an Büchern, dezent bitte, wenn es gestattet ist.“

Von Egon Friedells und Alfred Polgars „Goethe. Eine Szene“ bis Nele Pollatscheks „Kleine Probleme“: Die Auswahl an Empfehlungen, die er in seinem jüngsten Band getroffen hat, reicht vom frühesten 18. Jahrhundert bis ins Frühjahr 2025. Und weist jeweils mal direkte, mal lockere Bezüge zum Datum oder zur Jahreszeit auf. Nicht nur Romane und Erzählungen legt Moritz der Leserschaft ans Herz, sondern auch Gedichte, Tagebücher, Theaterstücke, Comics und Sachbücher. Selbst der Duden hat es zu einem Eintrag geschafft.

Dass in dessen aktueller Auflage „das Flittchen“ als diskriminierender Sprachgebrauch gekennzeichnet ist, „der Hurenbock“ jedoch nicht, empört den ehemaligen Hoffmann-und-Campe-Chef sowie Leiter des Hamburger Literaturhauses übrigens. „Wenn schon, denn schon.“ Und kennzeichnet ihn als aufmerksamen Leser. Auch kann Moritz nicht nachvollziehen, warum „Coitus a tergo“ aufgeführt ist, „Doggy Style“ aber unterschlagen wird. Wie es ihm überhaupt Vergnügen bereitet, den Besuchern deftige Passagen zuzumuten. „Ich weiß, das Heilbronner Publikum hält was aus.“

Mascha Kaléko, eine Krankenschwester und die Liebe

Und es freut sich über biografische Anekdoten. Mascha Kalékos Zwölfzeiler „Für Einen“ etwa hat Moritz seinerzeit auf einem Plakat bei einer Krankenschwester in Frankenbach entdeckt, in die er unglücklich verliebt war. Den Deutschlehrer am Robert-Mayer-Gymnasium wiederum konnte der Schüler Rainer mit seiner Interpretation von Conrad Ferdinand Meyers Gedicht „Zwei Segel“ nicht überzeugen: „Eine Zwei minus, wobei sich der Minusstrich über zwei bis drei Zentimeter hinzog.“ Auch erfahren die Fans, dass Moritz’ Vater zwar nicht gerade ein Vielleser war, wohl aber den neuen „Asterix“ immer zuerst für sich reklamierte.

Der Autor und Übersetzer liest, blättert, plaudert gewohnt kenntnisreich und ironisch. Über den kauzigen Walter Kempowski spricht er und dessen irrwitzigen Tagebucheinträge: „Helmut Kohl geträumt. Jugendherberge. Er war ungehalten“. In Peter Handkes Gedicht „Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968“ findet Moritz einen fälschlicherweise aufgeführten Spieler. Und mit Blick auf die Titel des von ihm verehrten Vielschreibers Georges Simenon ermuntert er: „Greifen Sie zu, dann haben Sie immer etwas richtig gemacht.“