Es war früher Nachmittag, als Nigel Farage die Bühne im National Exhibition Centre (NEC) in Birmingham betrat, drei Stunden früher als geplant. Der Grund: Angela Rayner, stellvertretende Premierministerin und eine der bekanntesten Figuren der Labour-Partei, war kurz zuvor über eine Affäre um nicht gezahlte Steuern zurückgetreten. Die Nachricht hatte die politische Szene erschüttert – und dem Chef der rechtspopulistischen Partei Reform UK den perfekten Moment geliefert.
Anhänger jubeln Farage in Birmingham zu
In der riesigen Halle empfingen ihn am Freitag seine Anhänger mit einem Spektakel, das mehr an ein Popkonzert erinnerte als an eine Parteiversammlung. Applaus brandete auf, die Musik wummerte aus den Lautsprechern, Feuerwerkskörper zischten in die Höhe. Farage wirkte gelöst, beinahe triumphierend, als er die Regierung frontal attackierte. Großbritannien stecke in einer tiefen Krise, sagte er, und würde von Politikern geführt, die das Land nicht im Griff hätten.
Und mitten in diesem Chaos, so Farage, erhebe sich nun eine neue Kraft: Reform UK. Seine Versprechungen: Großbritannien wieder sicherer machen, die Polizeikontrollen auf den Straßen ausweiten, ausländische Straftäter konsequent abschieben – und vor allem die Überfahrten über den Ärmelkanal beenden und Boote mit Geflüchteten zurückschicken. Reform UK inszenierte sich als künftige Regierungspartei, und das NEC bot dafür die perfekte Kulisse.
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Mit großer Bühne und einer Halle für Sponsoren und Medienvertreter stand die Veranstaltung jenen der etablierten Parteien kaum nach. Für Freitag und Samstag wurden Tausende Besucher erwartet, darunter auch Unternehmen wie der Flughafenbetreiber Heathrow oder die Plattform TikTok. Neben Reden prägten zahlreiche weitere Veranstaltungen das Programm – darunter ein Event der britischen Denkfabrik More in Common.
Reform UK erstmals bei rund 30 Prozent
Dieses Event suchte Antworten auf eine Frage, die sich in diesen Tagen viele Menschen stellen: Kann Reform UK mehr sein als nur eine Protestpartei? In der Wählergunst jedenfalls liegt die rechtspopulistische Partei schon jetzt vorn: Rund 30 Prozent würden aktuell für die Partei stimmen, wenn morgen gewählt würde. Die regierende sozialdemokratische Labour-Partei von Keir Starmer ist dagegen auf nur noch 20 Prozent abgestürzt.
Politische Beobachter sprechen von Reform UK als möglichem „government in waiting“, einer Kraft, die nur noch auf den Machtwechsel zu warten scheint. Nigel Farage, einst Vorkämpfer der Brexit-Bewegung und berühmtester EU-Hasser auf der Insel, steht längst nicht mehr am Rand, seine Partei ist ins Zentrum gerückt. Doch wie konnte es so weit kommen und könnte Farage womöglich der nächste Premierminister werden?
Mehr und mehr Briten stimmen Farage zu
Für Freddie Goff aus Milton Keynes, ein junges Reform-Mitglied in Anzug und Union-Jack-Krawatte, steht die Antwort schon fest: „Er wird der nächste Premierminister“, ist er sicher. Die Lage in Großbritannien sei so ernst, dass er und viele andere bereit seien, ihn von ganzem Herzen zu unterstützen. Der 18-Jährige wechselte zu Reform UK, weil er von den Konservativen enttäuscht war und Reform UK als einzige Alternative sah.
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Und offenbar stimmen immer mehr Briten dieser Haltung zu. Es ist ein bemerkenswerter Wandel. Noch vor anderthalb Jahren galt Reform UK als Protestpartei, der kaum jemand zutraute, über die 20-Prozent-Marke hinauszukommen. Das lag auch an Skandalen – etwa als Wahlkämpfer mit rassistischen Bemerkungen über den früheren konservativen Premier Rishi Sunak aufflogen. Solche Ausfälle ließen Reform UK für viele lange als nicht regierungsfähig erscheinen.
Farage weiß, wie man Schlagzeilen produziert
Das hat sich jetzt geändert. Luke Tryl von More in Common bestätigt, dass Reform UK heute eine breitere und vielfältigere Wählerstruktur hat als früher. „Sie spiegelt viel eher den Durchschnittsbriten wider“, erklärte er am Freitag. Und: Migration ist das Thema, das die Wähler am stärksten mobilisiert und zum Erfolg der Partei beiträgt – befeuert von den täglichen Meldungen über Boote, die Geflüchtete über den Ärmelkanal bringen.
Dabei sind die Einwanderungszahlen im europäischen Vergleich eher niedrig. In den Schlagzeilen erscheinen die Menschen dennoch oft als gesichtslose Masse, über die erbittert gestritten wird. Mal sorgt die Unterbringung von Asylsuchenden in Hotels für Ärger – Häuser, in denen viele Anwohner Hochzeiten gefeiert haben und die als Wahrzeichen der Stadt gelten. Mal richtet sich der Protest gegen geplante neue Heime für Geflüchtete im ganzen Land.
Labour-Regierung reagiert mit vermeintlicher Härte
Farage greift die aufgeheizte Stimmung auf, verstärkt sie mit seiner Rhetorik und verwandelt den Unmut in politische Schlagzeilen für Reform UK. Mit einfachen Antworten auf komplexe Probleme verleiht er der Partei Auftrieb, spricht offen von einer „Invasion“. Unter der Agenda Operation Restoring Justice – „Operation Wiederherstellung der Gerechtigkeit“ forderte Farage vergangene Woche den Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und massenhafte Abschiebungen.
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Für Kritiker ist dies ein Frontalangriff auf die Menschenrechte. Die britische Tageszeitung Financial Times sprach von einem Störmanöver, der Guardian von „Trumpismus im Union Jack“. Die Labour-Partei hat Farage hingegen dieser Tage nur wenig entgegenzusetzen und die Partei ist überdies mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Statt Farage klar zu widersprechen, plant Premier Keir Starmer eigene Maßnahmen.
Aufstieg schon länger absehbar
Ein Beispiel ist die Ankündigung, Hotels, in denen derzeit noch Asylsuchende untergebracht werden, rasch schließen zu wollen. „Die Hoffnung ist, mit harten Worten und dem Anschein entschlossenen Handelns die Menschen von der populistischen Rechten fernzuhalten“, sagt Tim Bale, Politologe an der Queen Mary University of London, im Gespräch mit dieser Zeitung. Doch indem Labour versucht, Reform UK rechts zu überholen, tappt sie in eine Falle.
Farage gilt als guter Rhetoriker und polarisiert immer wieder mit Aussagen zur Migrations- und Asylpolitik.
Foto: KEVIN DIETSCH
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Diese Falle, so Bale, sei in Europa vielfach zu beobachten: Parteien, die den Populisten zu ähnlich werden, treiben ihre progressiven Anhänger geradewegs in die Arme der Konkurrenz. Rückblickend kündigte sich der Aufstieg von Reform UK bereits im Sommer des vergangenen Jahres an, als Farage in Clacton, einer Küstenstadt in Essex, nach zahlreichen Anläufen schließlich ins britische Parlament einzog.
Migration das bestimmende Thema
Migration dominierte die Gespräche an Marktständen und in Cafés schon damals – angestoßen durch Schlagzeilen über irregulär eingereiste Flüchtlinge und die Vorstellung, sie erhielten leichter eine Unterkunft als Einheimische. „In kleineren, eher provinziellen Städten herrscht das Gefühl, wirtschaftlich zurückgelassen worden zu sein, und dass die aufeinanderfolgenden Regierungen die Bedenken hinsichtlich der Einwanderung nicht ernst genommen haben“, sagt Bale.
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Im Sog dieser Stimmung zog Reform im Juli 2024 schließlich mit fünf Abgeordneten ins Londoner Unterhaus ein. Was zunächst nach einem Achtungserfolg aussah, erwies sich schnell als Auftakt zu einer Serie weiterer Siege. Bei den Kommunalwahlen im Mai 2025 eroberte die Bewegung zahlreiche Rathäuser, stellte Bürgermeister und übernahm erstmals ganze Bezirke.
61-Jähriger gibt sich volksnah – mit Pint in der Hand
Auf der eigenen Website bildet ein Zähler die wachsende Anhängerschaft der rechtspopulistischen Partei ab: Mehr als 238.000 Mitglieder waren es zuletzt. Damit liegt Reform UK längst vor den Konservativen und nicht weit hinter Labour. Diesen deutlichen Erfolg hatte selbst Farage nicht erwartet, sagte er am Freitag in Birmingham.
Fest steht: Kaum ein Politiker hat die britische Politik in den vergangenen Jahrzehnten so polarisiert wie Farage. Im eigenen Land wird er gern mit „Marmite“ verglichen, einem Brotaufstrich, den man entweder liebt oder hasst. Doch er kann Inhalte in einer Sprache präsentieren, die viele verstehen, und gibt sich dabei volksnah, wird oft mit einem Pint in der Hand fotografiert.
Farage ist ein Publikumsmagnet
„Natürlich spielt er, wie jeder andere Politiker auch, nur eine Rolle. Aber er beherrscht sie deutlich besser als die meisten anderen“, sagt Bale. Hinzu kommt sein Gespür für Kommunikation. Farage weiß, wie man Schlagzeilen produziert. Er ist ein Publikumsmagnet für Radio und Fernsehen und sein Team steckt viel Energie in soziale Medien.
So erreicht er Zielgruppen, die andere Parteien kaum ansprechen. Auf TikTok inszeniert er sich dabei gern als Provokateur, der im Pub über Politik plaudert oder in kurzen Clips den politischen Gegner verspottet. Schon als Schüler galt Farage als rebellisch. Während Gleichaltrige in der Pubertät mit Lederjacken und langen Haaren provozierten, erschien er im Anzug.
Er will nicht für etwas stehen, sondern dagegen
Ein Lehrer erinnert sich, dass er Farage am Tag seines Schulabschlusses sagte: „Nigel, ich bin mir sicher, du wirst es einmal weit bringen, ob zum Ruhm oder Verruf, das kann ich nicht sagen.“ Dieser habe geantwortet: „Egal, Sir. Hauptsache, ich komme weit.“ In diesem Satz steckt bereits die Haltung seiner späteren Karriere: Farage wollte nicht für etwas stehen, sondern gegen etwas sein.
Farage prägte die britische Politik dabei jahrelang, ohne selbst im Unterhaus zu sitzen – zunächst als Abgeordneter im Europäischen Parlament, dann als Parteichef der UK Independence Party (UKIP) und später der Brexit-Party. Jetzt ist er mit Reform UK zurück, sitzt seit 2024 erstmals selbst im Parlament. Könnte Farage nun auch noch Premierminister werden?
„Sicher ist das nicht”, sagt Bale. Viele Wähler liebäugeln zwar mit Reform UK, doch nicht alle trauen der Bewegung zu, das Land tatsächlich regieren zu können, und sehen zudem Farage nicht im Amt eines Premierministers. Hinzu kommt das Wahlsystem, das kleinere Parteien benachteiligt. „Keines dieser Probleme ist unüberwindbar“, sagt Bale, „aber sie machen den Weg an die Macht für Farage deutlich steiniger.“
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