Stand: 28.09.2025 08:16 Uhr

Für Kinder in Notlagen können Pflege-Eltern die Rettung sein. Doch die Bereitschaft, Kinder aufzunehmen, sinkt in Berlin – die Politik versucht, mit finanziellen Anreizen gegenzusteuern. Von Anja Herr

Auf der Terrasse von Erik und Liane Koch in Berlin-Reinickendorf ist es bunt. Auf einer farbenfrohen Decke liegen Holzsteine in blau, grün und rot. Zwei kleine Mädchen im Alter von acht und 14 Monaten bauen daraus kleine Türme. Es sind zwei Pflegekinder, die die Kochs im vergangenen Jahr zu sich genommen haben, und deren Namen hier nicht genannt werden sollen.
 
Der 56-jährige Erik Koch hat lange als Rettungssanitäter gearbeitet. Seit einem Unfall vor zehn Jahren ist er arbeitsunfähig. Jetzt ist er froh, dass er sich um die beiden Mädchen kümmern darf, gemeinsam mit seiner Frau, die noch halbtags in der Pflege arbeitet. „Die Kinder zu sehen, wie sie sich freuen, ist toll“, finden sie beide. „Sie kommen ja aus kaputten Familien, es ist schön, mit anzusehen, wie sie sich entwickeln“, sagt Erik Koch.

Bereitschaft zur Aufnahme sinkt

Die beiden haben noch zwei leibliche Kinder, einen Sohn und eine Tochter, die bereits erwachsen sind. „Plötzlich war es so leer im Haus, da dachte ich, das kann’s noch nicht gewesen sein“, sagt Liane Koch. Die beiden entschlossen sich, einen Lehrgang für Pflegeeltern zu machen.
 
Bevor jemand ein Pflegekind anvertraut bekommt, wird geprüft, ob er oder sie geeignet ist, ein Kind aufzunehmen – ob beispielsweise das Einkommen ausreicht. Auch ein Gesundheitsattest und ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis sind Voraussetzung für eine Pflegschaft.
 
Im Kurs erfahren die Bewerber:innen dann alles, was sie wissen müssen, um gut für die Kinder sorgen zu können. Jeder Bezirk bietet solche Kurse an.
 
Liane Koch hat ein klares Ziel vor Augen: „Wir fangen sie auf, päppeln sie auf, stärken sie fürs Leben. Und versuchen, ihre kleine Seele wieder ein bisschen zu reparieren, dass sie dann stark sind“, sagt sie.

Blick auf die Babyklappe (Quelle: dpa/Uli Deck)

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Mehr Wohnraum könnte helfen

Berlinweit vermittelt der Verein „Familien für Kinder“ Interessierte an die richtigen Stellen, wenn es darum geht, ein Pflegekind aufzunehmen. Über die Vermittlung selbst entscheidet letztlich das Jugendamt.
 
Der Geschäftsführer von „Familien für Kinder“, Peter Heinßen, würde sich wünschen, dass sich wieder mehr Menschen dafür entscheiden, ein Pflegekind aufzunehmen. „In den letzten Jahren ist die Bereitschaft immer weiter zurückgegangen“, sagt er.
 
Darauf deuten auch Zahlen der Senatsverwaltung hin: Vor fünf Jahren waren in Berlin noch mehr als 2.000 Kinder in Pflegefamilien untergebracht, im vergangenen Jahr waren es nur noch knapp 1.800. Peter Heinßen führt das unter anderem darauf zurück, dass Wohnraum knapp ist: „Wir hatten früher ganz oft den Fall, dass Leute Pflegefamilie werden wollten und sich einfach eine größere Wohnung gesucht haben.“ Das gehe in Berlin jetzt oft nicht mehr.

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Bedarf an Pflegefamilien ist hoch

Der Bedarf an Pflegeeltern in Berlin ist hoch, denn immer wieder geschieht es, dass sich Eltern nicht um ihre Kinder kümmern können. Ursachen können psychische Probleme oder Drogensucht sein. Häufig spielt auch Gewalt eine Rolle.
 
Im vergangenen Jahr konnten 394 Kinder in Berliner Pflegefamilien aufgenommen werden – der Verein geht allerdings davon aus, dass eigentlich 700 Kinder eine Pflegefamilie bräuchten. „Es ist sehr dringend“, sagt Heinßen. „Vor allem Säuglinge sind in einer Einrichtung nicht gut aufgehoben. Die brauchen eine Bezugsperson, die 24 Stunden am Tag für sie da ist – da ist eine Pflegefamilie immer die beste Lösung.“
 
Sein Verein will dafür werben und alle ansprechen: Geeignet seien Alleinerziehende genauso wie gleichgeschlechtliche Paare, Paare mit unerfülltem Kinderwunsch – „einfach alle“, sagt er.
 
Viele hätten Vorbehalte, weil Pflegeeltern rechtlich anders gestellt sind als zum Beispiel Eltern, die ein Kind adoptieren. Bei einer Adoption nimmt das Kind den Nachnamen der Adoptivfamilie an und ist mit seiner Herkunftsfamilie nicht mehr verwandt. Bei einer In-Pflegenahem bleibt das Kind rechtlich den leiblichen Eltern zugeordnet, sie behalten auch Kontakt zu den Kindern.

Christiane Rathke und Hannjo Bergemann

Netzwerke und bezirkliche Hilfe

Allerdings gibt es deutlich weniger Kinder, die zur Adoption freigegeben sind, als Pflegekinder, die ein neues Zuhause suchen. Heinßen betont zudem, es komme äußerst selten vor, dass in Langzeitpflege genommene Kinder wieder zu den leiblichen Eltern zurückkehren – dies sei nur bei drei Prozent der Pflegekinder der Fall.
 
Zudem erhielten Pflegeeltern große Unterstützung von den Bezirken: durch ein Netzwerk, das mit anderen Pflegeeltern bestehe. Davon profitieren auch Christiane Rathke und Hannjo Bergemann, die vor zehn Jahren einen Jungen zur Pflege aufgenommen haben. Weil seine leibliche Mutter während der Schwangerschaft mit großer Wahrscheinlichkeit Alkohol trank, leidet er nun unter Konzentrationsschwierigkeiten und weist Entwicklungsverzögerungen auf. „Das Jugendamt gewährt uns Hilfen, eine Lerntherapie für unser Kind und Supervision“, erzählt Christiane Rathke. Auch den Austausch mit anderen Pflegeeltern halten die Pflegeeltern für „unheimlich wertvoll“, wie sie sagen.

Symbolbild: Ein Pflegevater spielt mit seinem Kind. (Quelle: dpa/Uwe Anspach)

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Die Politik setzt finanzielle Anreize

Dass die Bereitschaft, ein Pflegekind aufzunehmen, in den letzten Jahren gesunken ist, hat auch die Politik bewegt: Im vergangenen Jahr wurden finanzielle Anreize gesetzt für Eltern, die sich zu dem Schritt entscheiden. Die Pauschalen sowohl für Lebensunterhalt des Kindes als auch für die Pflegepersonen wurden deutlich erhöht, abhängig vom Alter des Kindes. Für ein fünfjähriges Kind stieg sie beispielsweise vor einem Jahr von 399 auf 603 Euro im Monat.
 
Zudem gibt es seit Anfang dieses Jahres für die ersten zwölf Monate einen Start-Bonus von 924 Euro monatlich, eine elterngeldähnliche Leistung. Seitdem seien rund 50 neue Pflegefamilien gefunden worden, schreibt die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie.
 
Außerdem setze sich Berlin über die Landesgrenzen hinaus für die Rechte von Pflegeeltern ein, so die Senatsverwaltung. Gemeint ist eine Bundesratsinitiative, die Berlin vor einem Jahr gemeinsam mit Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und Thüringen gestartet hat. Damit soll erreicht werden, dass Elterngeld bundesweit auch für Pflegeeltern gezahlt wird. Berlin wolle so erreichen, dass Pflegeeltern dieselben sozialen und finanziellen Absicherungen bekommen wie leibliche Eltern, so die Senatsverwaltung: „Denn sie übernehmen eine ebenso verantwortungsvolle wie wichtige Erziehungsaufgabe.“

Sendung: rbb24-Abendschau, 27.09.2025, 19:30 Uhr

Rundfunk Berlin-Brandenburg