Stand: 28.09.2025 12:44 Uhr
„Justiz-Skandal“ – oder „Justiz-Irrtum“? Vor einem Jahr hat das Landgericht Braunschweig ein Ehepaar freigesprochen, das zuvor für vermeintlich grauenhafte Taten im Gefängnis saß. Die juristische Aufarbeitung ist nicht zu Ende.
684 Tage saßen Ramona R. und ihr Mann Thorsten unschuldig im Gefängnis – verurteilt vom Landgericht, angeklagt von der Staatsanwaltschaft und beschuldigt von Tochter Josephine. Die junge, psychisch gestörte Frau Mitte 20 hatte zahlreiche Narben auf der Haut. Namen von angeblichen Peinigern waren auf den Rücken geritzt, sie trat als Nebenklägerin im Gericht auf: Sie sei von den Eltern als Sexsklavin missbraucht worden, man habe sie sogar umbringen wollen.
Alle glaubten dem vermeintlichen Opfer – bis auf die Polizei
Erste Verdachtsmomente, dass das vermeintliche Opfer Lügen präsentierte, zeichneten sich schon während des ersten Gerichtsverfahrens ab. Die Polizei war auf Ungereimtheiten gestoßen – ein Konflikt mit der Staatsanwaltschaft entbrannte. Doch Psychologen, Anwälte, Staatsanwälte, Opferhilfeeinrichtungen und Richter glaubten der jungen Frau. Erst nachdem die Eheleute bereits in Strafhaft waren – eine Zeit, die sie am Rande des Verfahrens als äußerst belastend beschrieben – hob der Bundesgerichtshof das Urteil auf. Heute kämpfen Ramona R. und ihr Mann um die juristische Aufarbeitung des Fehlurteils, das ihr Leben ins Wanken gerieten ließ und bis heute beeinträchtigt: juristisch zwar freigesprochen, aber dennoch lebenslänglich verletzt.
Mutter und Stiefvater aus Goslar waren zu langen Haftstrafen verurteilt worden. Doch der Prozess wurde neu aufgerollt.
Warum wurde nicht gehandelt?
Sie haben die Oberstaatsanwältin angezeigt, die damals die Ermittlungen gegen sie führte. Der Grund: ein Zwischenbericht der Polizei Braunschweig. Denn die „Ermittlungsgruppe Eisberg“ hatte im Oktober 2023 – nach dem ersten Urteil – akribisch aufgeführt, dass es zahlreiche entlastende Beweise für das Ehepaar gab. Der NDR konnte diesen Bericht einsehen, er führt unterschiedlichste Belege klar auf. Dennoch blieben die Eheleute fünf weitere Monate hinter Gittern, bis der Bundesgerichtshof (BGH) das Urteil wegen Rechtsfehlern aufhob.
Anzeige gegen die Oberstaatsanwältin
Warum wurde dieser Bericht mit den entlastenden Fakten nicht umgehend weitergeleitet an das Landgericht oder den Bundesgerichtshof, damit die Eheleute auf freien Fuß gesetzt werden konnten? Eine Frage, die für Rechtsanwalt Johann Schwenn auch ein Jahr später nicht beantwortet ist. Aus seiner Sicht hat sich die zuständige Staatsanwältin damit „auf schwerwiegende Weise vom Recht entfernt“. Die Staatsanwältin hätte handeln müssen – so der Vorwurf, der derzeit von der Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig geprüft wird.
Der Bundesgerichtshof sah erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Tochter – Reporter Tino Nowitzki mit Einzelheiten.
Das Verfahren läuft noch
„Hat die Beschwerde keinen Erfolg, soll die Aufnahme der Ermittlungen mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung erzwungen werden“, sagt Rechtsanwalt Schwenn dem NDR in Niedersachsen. Zuständig wäre ein Strafsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig. Einmal allerdings sind die Eheleute mit der Anzeige bereits gescheitert: Die Staatsanwaltschaft Göttingen sieht kein strafbares Fehlverhalten der Kollegen aus Braunschweig. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig antwortet auf Nachfrage des NDR. Sie möchte sich nicht öffentlich detaillierter äußern, die Aufarbeitung laufe intern.
Ermittlungen erstreckten sich über zahlreiche „Verdächtige“
Die Anzeige der Eheleute ist nicht das einzige juristische Nachspiel. Mittlerweile wird gegen die Tochter Josephine R. ermittelt – unter anderem wegen falscher Verdächtigung. Zwischenzeitlich hatte die Staatsanwaltschaft aufgrund ihrer Angaben zahlreiche Menschen im Visier, darunter auch Polizeibeamte, die Teil eines angeblichen Missbrauchs-Ringes gewesen sein sollen.
Landgericht Göttingen entscheidet über aktuellen Fall
Ein weiterer Komplex dreht sich um eine ehemalige Lebensgefährtin des vermeintlichen Opfers, Miriam A. Sie sitzt aktuell in Haft, weil sie vom Landgericht Braunschweig ebenfalls verurteilt worden war. Auch sie ist vermutlich unschuldig hinter Gittern, doch juristisch ist ihr Fall komplizierter: Sie hatte sich immerhin selbst belastet, was möglicherweise ebenfalls auf eine psychische Erkrankung zurückzuführen ist. Sowohl der Anwalt von Miriam A. als auch die Staatsanwaltschaft haben eine Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt. Am Freitag hat das Landgericht Göttingen eine erste Entscheidung gefällt: Der Antrag der Staatsanwaltschaft sei unzulässig; Miriam A. bleibt vorerst in Haft. Über den zweiten Antrag des Anwalts wird die Schwurgerichtskammer noch entscheiden.
Sie hatte ein Ehepaar aus Goslar wegen Missbrauchs angeklagt. Zwei Jahre saß das Paar unschuldig im Gefängnis.
Sie war 2022 wegen schweren sexuellen Missbrauchs schuldig gesprochen worden. Ihr Anwalt beantragt, dass der Fall neu verhandelt wird.
Mutter und Stiefvater aus Goslar waren 2023 zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Der BGH hatte das Urteil aufgehoben.