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Er gilt vielen als „Waffenlager“ Europas. Durch die Jugoslawienkriege ist auf dem Balkan immer noch ein großer Bestand alter Schusswaffen in Umlauf. Die meisten lagern in Privathaushalten. Ein tödliches Erbe.
Waffen so weit das Auge reicht. Sie kommen aus Kellern, von Dachböden, auf jeden Fall aus privaten Häusern: In einer Lagerhalle in Belgrad türmen sich Pistolen, Tausende Gewehre und Maschinengewehre sind säuberlich aufgereiht, Kisten voller Panzerfäuste und Munition stehen an der Wand. In einer Ecke des Raums lagern sogar Raketenwerfer.
Serbinnen und Serben haben sie freiwillig zu dieser Rückgabestelle gebracht, die das serbischen Innenministerium eingerichtet hat. Sie wollen aufräumen mit den Hinterlassenschaften aus Kriegszeiten, wo Waffen inflationär im Land kursierten und dann als Erbstücke in der Familie weitergegeben wurden oder auf dem Schwarzmarkt landeten.
Nur in den USA und Jemen noch mehr Wafffen
Schusswaffenamnestien wie diese gab es bisher mehrere in Serbien, im Zuge derer wurden mehr als 100.000 illegale Waffen abgegeben. Bei einer Waffendichte wie der in Serbien fällt das allerdings nur bedingt ins Gewicht.
Fest steht, in den zwei Westbalkanstaaten Serbien und Montenegro besitzen die Menschen die meisten Waffen in Europa, nämlich 39 pro 100 Einwohner, getoppt nur noch von den USA und dem Bürgerkriegsland Jemen. Umgerechnet heißt das, es gibt im Durchschnitt in jedem Haushalt eine Waffe.
Der Ex-Kriminelle Kristian Golubovic ist in Serbien ein TV-Star. Er prahlt gern mit seiner Vergangenheit als Gangster im Belgrad der 90er Jahre.
Ex-Krimineller wird zum Star
Für viele Bürger in Serbien oder Montenegro gehören Waffen zur Tradition, zum Alltag, sind ein Zeichen für Freiheit und Anerkennung. Hierfür steht auch Kristian Golubovic. Der 50-Jährige, knallbunte Baseballkappe, viele Tattoos, hatte immer schon Zugang zu Waffen und blickt auf eine äußerst kriminelle Vergangenheit zurück, war Teil der berüchtigten Gang-Szene im Belgrad der 90er-Jahre.
In dieser Zeit habe man einen Kebab für eine Pistole tauschen können, erzählt er und prahlt damit, auch heute noch innerhalb von einer Stunde eine Waffe besorgen zu können. Um in die Szene reinzukommen habe er das Hotel Majestic im Zentrum der Stadt, damals eine angesagte Disko, zusammen mit Freunden gestürmt, alle schwer bewaffnet.
Golubovic saß mehrmals mehrere Jahre im Gefängnis, einmal auch in Düsseldorf wegen eines bewaffneten Raubüberfalls. In den 90er-Jahren, als der Krieg eskalierte – und mit ihm auch die Zahl der Waffen und Drogen zunahm – habe die Gewalt völlig neue Ausmaße angenommen, so Golubovic.
Jeder konsumierte Drogen, jeder trug eine Waffe, niemand hatte vor irgendwem Angst oder Respekt. Damals rollten täglich Köpfe. Sicherlich sind 80 Prozent der Unterwelt des ehemaligen Jugoslawiens und anderer Teile des Balkans durch eine Welle von Morden ausgelöscht worden.
Kristian Golubovic wird während des Interviews mit ARD-Korrespondentin Anna Tillack auf der Straße von einer Passantin erkannt. Gerade für viele jüngere Menschen scheint Golubovic eine Art Vorbild zu sein, seine Geschichte fasziniert viele.
Kriminalität macht Quote
Golubovics kriminelle Geschichte scheint viele Serbinnen und Serben zu faszinieren. Inzwischen ist er ein Reality-TV-Star im serbischen Privatfernsehen, der sich für mehrere Monate in einer Art Big-Brother Format durchgehend filmen lässt.
Dabei darf er zur besten Sendezeit erzählen, wie man am besten einen Mord begeht: Man solle das Opfer einfach in eine Decke wickeln und erhängen, dabei hinterlasse man keine Spuren, sagt er. Auf der Straße wird Golubovic immer wieder von Groupies angehalten, man kennt den Ex-Gangster, gerade für viele jüngere Menschen scheint er eine Art Vorbild zu sein.
Amokläufe in der Vergangenheit
Als im Mai 2023 ein junger Mann zu einer illegalen Waffe vom Schwarzmarkt greift und aus einem fahrenden Auto neun Menschen erschießt, stellt sich während der Ermittlungen heraus, dass der Schütze Gangs und Kriminelle anhimmelte, allen voran Kristian Golubovic. Ganz Serbien steht damals unter Schock.
Einen Tag zuvor war es zu einem Amoklauf an einer Schule in Belgrad gekommen, beim dem ein 13-Jähriger mit der Schusswaffe seines Vaters neun Mitschüler und den Hausmeister erschoss.
Organisierte Kriminalität in Montenegro
450 Kilometer weiter in Montenegro ist die Lage ähnlich, in fast jedem Haushalt gibt es eine Waffe. Die Zahl der Tötungen liegt auch hier im Europäischen Vergleich weit oben. Mit ein Grund dürfte die organisierte Kriminalität sein, die in Form von verfeindeten Clans seit Jahren erbitterte Kämpfe führt – in der Region, aber auch europaweit.
Die Beamten stufen die Aktivitäten der montenegrinischen Mafia als „hochriskant“ ein, konnten die Netzwerke bisher allerdings nicht zerschlagen. Waffen werden transportiert, verschoben, gelangen von hier aus auch nach Westeuropa.
Balsa Djurisic, Polizist einer Sondereinheit, zeigt die Funde seiner nächtlichen Kontrollen: Von Schnellfeuerwaffen bis zu größeren Mengen an Kokain ist alles dabei.
Eingesammelte Waffen liegen auf einem Tisch in Montenegro.
„Es ist schwer sich sicher zu fühlen“
Vor allem die historische Stadt Cetinje, die ehemalige Hauptstadt von Montenegro, wird in trauriger Regelmäßigkeit Schauplatz von Schießereien. Berichte von Ermordungen durch Scharfschützen, Sprengstoffanschläge auf Autos und Amoktaten häufen sich. Allein in den letzten vier Jahren wurden in der beliebten Touristenhochburg mehrere Dutzend Personen getötet.
Die Lehrerin Maja lebt seit ihrer Geburt in Cetinje. Bei einer der Massenschießereien 2022 hat sie ihren Cousin verloren. Obwohl der Schütze ein polizeibekannter Gewalttäter ist, durfte er legal eine Waffe führen.
Insgesamt erschießt er zehn Menschen, darunter die beiden Jungen Marko und Masan. Es sei schwer, sich heutzutage in der Stadt sicher zu fühlen. Überall sehe man Orte, wo jemand umgebracht worden sei, erzählt Maja.
Maja hat 2022 bei einer Massenschießerei ihren Cousin verloren.
Hoffnung auf Verschärfung der Gesetze
Sie hat der Regierung den Kampf angesagt und eine Initiative gestartet, mittels derer das Waffenrecht verschärft werden soll. Denn bisher müsse man für den Besitz eines Gewehrs oder einer Pistole in Montenegro nicht einmal ein psychologisches Gutachten vorweisen.
In einer schlaflosen Nacht sei sie auf die Idee gekommen, einen Gesetzentwurf voranzutreiben, der sich „Marko und Mašan Gesetz“ nennen soll, erklärt Maja.
Schon am nächsten Tag war ich nicht mehr alleine damit. Alle Angehörigen unterstützen es und bereits nach einer Woche waren es 4.000 Menschen.
Der Antrag auf schärfere Waffengesetze hat es bis ins montenegrinische Parlament geschafft, wo im Herbst darüber abgestimmt werden soll. Die Bürger in Cetinje wollen ihren Kampf erst beenden, wenn die Behörden mit dem tödlichen Erbe aufgeräumt haben.
Die Weltspiegel-Dokumentation „Balkan: Im Bann der Waffen sehen sie am 16.11.2025 um 18:30 Uhr im Ersten und ab sofort in der ARD-Mediathek.