Am Freitag fand ein Gipfel statt in London, mal wieder, die britische Regierung mag Gipfel. Premierminister Keir Starmer betrachtet es als eine seiner wichtigsten Aufgaben, das Vereinigte Königreich wieder mehr in den Mittelpunkt der internationalen Bühne zu rücken, die das Land unter den Brexiteers der Tories so bereitwillig verlassen hat. Zu Gast war bei der von einem Thinktank ausgerichteten Veranstaltung ein sehr spezifisch ausgewählter Kreis: Neben diversen Ministern aus unter anderem Spanien, Island, Schweden und Illinois, USA, kamen auch Anthony Albanese, Mark Carney und Mette Frederiksen, die Regierungschefs aus Australien, Kanada und Dänemark. Titel des Gipfels, in griffigem Englisch: „Global Progress Action Summit“.
Es ging darum, Ideen auszutauschen, mit denen die Progressiv-Linken gegen die (extrem) Rechten antreten sollten. Keir Starmer sagte, allein dieser Gipfel und die vielen Gäste seien doch ein Beleg dafür, dass die Behauptung insbesondere in weiten Teilen der britischen Medien, es gehe nur noch um die Themen der far right, falsch sei. Er nutzte seine Rede, um sein bisher größtes politisches Projekt vorzustellen, kurz vor der Abreise zum diesjährigen Parteitag von Labour in Liverpool am Sonntag: die Einführung von digitalen Ausweisen für alle britischen Bürger.
Starmer zielt mit dem Vorhaben auf die „illegale Schatten-Arbeitswelt“ ab
Tatsächlich ist das ein Thema, das viele Briten bewegt. Es gibt in diesem Land kein Meldewesen und also keinen einheitlichen Datensatz der hier Lebenden. Es gibt auch keinen Personalausweis oder eine vergleichbare Form der Ausweismöglichkeit, abgesehen vom passport, dem Äquivalent zum deutschen Reisepass. Wer seinen Wohnort nachweisen muss, um ein Bankkonto zu eröffnen, muss eine Rechnung vorzeigen, von der Steuerbehörde zum Beispiel, oder auch vom Stromanbieter.
Ein Land ohne Meldewesen kann auch diejenigen kaum erfassen, die neu hierherziehen, weshalb Starmer in seiner Rede betonte, die neuen digitalen Ausweise würden auch „die Grenzen sicherer machen“. In diesem Kontext gemeint sind natürlich Flüchtlinge, vor allem die sogenannten illegalen, das Lieblingsthema der far right, das auch Keir Starmer längst adoptiert hat. Alle, die in diesem Land arbeiten wollen, sollen künftig als Voraussetzung einen solchen Digital-Pass haben, sagte Starmer. „Schon viel zu lange“ sei es möglich, dass Leute „hierherkommen, abtauchen in eine illegale Schatten-Arbeitswelt und verschwinden“.
Es gab in den vergangenen Jahrzehnten schon einmal den Versuch, eine Art Personalausweis einzuführen, ebenfalls von einer Labour-Regierung. 2002 stellte Tony Blairs Innenminister David Blunkett Pläne für eine „National ID Card“ vor, eine Plastikkarte für alle Briten. Zwei Jahre später wurde ein entsprechendes Gesetz eingebracht, und wiederum zwei Jahre später, im März 2006, trat das Gesetz in Kraft.
Vor 15 Jahren gab es bereits den Versuch, eine Plastikkarte für alle Briten einzuführen – die Konservativen stoppten ihn
Von Sommer 2009 an war es britischen Bürgern möglich, gegen eine Gebühr eine ID Card zu erwerben, verpflichtend war das nicht. Allerdings wurden alle Briten ab 16 Jahren, die einen Pass beantragten, automatisch in einer Datenbank registriert. So nah wie damals kamen die Briten dem Meldewesen nie wieder.
Die Konservativen waren dagegen, sie halten traditionell jede Form von Vorschrift durch den Staat für einen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Bürger. Auch ein beträchtlicher Teil der Briten schien damals der Meinung zu sein, dass es sinnvoller ist, eine Rechnung mit Anschrift vorzeigen zu müssen, die nur im Original und ohne Schwärzen der Beträge akzeptiert wird, statt einer Plastikkarte, auf der lediglich Name, Geburtsdatum und Adresse vermerkt sind. 2010, kurz nachdem die Koalitionsregierung aus den Konservativen und den Liberaldemokraten die Wahlen gewonnen hatte, wurde das Vorhaben wieder abgewickelt und die Datenbank zerstört. Rund fünf Milliarden Pfund soll das Projekt gekostet haben.
Keir Starmer sagte nun, er rechne damit, dass die digitale Form der ID Cards bis zum Ende dieser Legislaturperiode auf den Weg gebracht werden könne. Die neuen Personalausweise sollen rein digital bestehen und für die Bürger kostenlos sein. Vorbild ist Estland: Dort haben die Bewohner eine sogenannte e-ID, die für alles Mögliche genutzt werden kann, für den Gesundheitsdienst, für Behördenvorgänge oder auch zum Wählen.
Die Konservativen und die Rechten von Reform UK sind erwartungsgemäß gegen Starmers Vorhaben. Eine (digitale) Petition gegen die digitalen Ausweise hat innerhalb von 24 Stunden immerhin rund 900 000 Unterzeichner gefunden. Allerdings beeinflussen derlei Unterschriftenaktionen praktisch nie die Pläne von Regierungen. Nach dem Brexit-Referendum gab es auch eine Petition, die das Rückgängigmachen des Brexits forderte, damals unterschrieben sechs Millionen Menschen. Sie alle lebten wahrscheinlich in Großbritannien.