
Dr. Detlef Ziegler
© Bischöfliche Pressestelle / Ann-Christin Ladermann
„Ich habe einen Verdacht…“ Wer so beginnt, kann sich sicher sein, dass andere jetzt die Ohren spitzen. Kommt jetzt eine begründete Sorge? Oder werden jetzt durch nebulöses Geraune Halb- und Unwahrheiten gestreut?
„Ich habe einen Verdacht…“ Niemand möchte gern in Verdacht geraten. Vor allem nicht, wenn dieser im Ungefähren stecken bleibt und den Beweis für seine Richtigkeit schuldig bleibt. Selbst wenn der Verdacht sich im Nachhinein als haltlos erweist: Wen interessiert das dann noch? Bis zum Beweis des Gegenteils ist die Karawane einer lauernden Aufmerksamkeit längst weitergezogen. Und ein bestimmtes Kalkül wird billigend und gern in Kauf genommen: Etwas bleibt immer hängen von dem Dreck, mit dem andere um sich geworfen haben. Der Verdächtigte bleibt in der öffentlichen Wahrnehmung beschädigt zurück. War da nicht mal was?
Wir wissen oder ahnen es längst: Unser öffentlicher Diskurs gerät immer mehr zur Farce, wenn wir uns abschotten, in den eigenen Sprechblasen gefangen bleiben und nur noch zwei Meinungen kennen – die eigene und die falsche – ; wenn wir Andersdenkende durch haltlose Verdächtigungen diskreditieren wollen und dafür fast jedes Mittel recht ist. Damit sägen wir den Ast ab, auf dem wir alle sitzen. Und wir sitzen auf dem Ast einer liberalen, pluralen und weltoffenen Demokratie. Dieser liberale Pluralismus gerät immer mehr unter Druck, wird von rechten und rechtsextremistischen Kreisen versteckt oder offen zum Hauptfeind erklärt, nicht nur in unserer säkularen Gesellschaft, sondern leider auch in Teilen unserer Kirche. Beide sind bedroht durch verrohte Kommunikationsformen, die Pluralität im Kern leugnen und durch verabsolutierte Wahrheitsansprüche oder Fake News unser Miteinander unterlaufen.
„Ich habe einen Verdacht…“ Ich plädiere dafür, diese gängige Floskel aufzubrechen und zum Kriterium eines wirklich fairen und offenen Diskurses zu machen. Die Satzergänzung müsste dann wohl lauten:
„Ich habe den Verdacht, dass der Andere auch recht haben könnte.“
Das wäre endlich mal ein heilsamer Verdacht, der mich selbst in die Pflicht nimmt, mich auffordert, den eigenen Standpunkt, die eigenen Überzeugungen nicht absolut zu setzen, sondern zu relativieren. Und dies gelingt am ehesten im lebendigen Austausch, der durchaus kontrovers verlaufen kann, und nicht im Kämmerlein der eigenen Selbstbespiegelung. Damit ist kein billiger Relativismus gemeint, der Wahrheitsansprüche grundsätzlich leugnet und alles einer Gleich-Gültigkeit ausliefert, sondern die lohnende Anstrengung, mit anderen in die Auseinandersetzung zu gehen. Ich bin überzeugt: Ja, es gibt Wahrheit. Aber ich bin auch überzeugt: Niemand hat sie in der ganzen Breite und Fülle. Das gilt auch für die Kirche und ihre Tradition. Auch sie musste in der Vergangenheit so manche Lehrmeinung ändern, indem sie im Diskurs mit anderen dazulernte; sie wird es auch heute und in Zukunft tun müssen, wenn sie ein ernstzunehmender Gesprächspartner sein will. Und deswegen braucht es den lebendigen und wertschätzenden Dialog, auf den eine freie Gesellschaft und eine freie Kirche dringend angewiesen sind.
Solange Meinungen nicht menschenverachtend sind und die Grundrechte unseres Landes und den Anspruch der biblischen Botschaft nicht zynisch unterlaufen, wünsche ich mir diesen heilsamen Verdacht: Hat der Andere nicht auch recht?