Es sind die Drohnen, die regelmäßig über deutsche Atomkraftwerke und Militärgelände fliegen. Es sind die Löcher, die Unbekannte nachts in die Zäune von Industrieanlagen und Kasernen schneiden. Es sind zerstörte Glasfaserkabel, Cyberangriffe und Brandanschläge.

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Die Häufung derartiger Attacken sei bemerkenswert, sagt Johannes Rundfeldt. Als Sprecher der unabhängigen „Arbeitsgruppe Kritische Infrastrukturen“ (AG Kritis) beschäftigt er sich seit Jahren mit derartigen Vorfällen.

Leider hätten weder die Politik noch die deutsche Öffentlichkeit bis heute realisiert, in welcher Frequenz hybride Angriffe gegen die Bundesrepublik erfolgten – und wie schutzlos die ausgewählten Ziele gegen derartige Attacken seien.

Für etliche Taten machen deutsche Sicherheitsbehörden Russland verantwortlich. Bei anderen Vorfällen gibt es bloß starke Indizien, die auf eine russische Beteiligung hindeuten. Politik und Experten fehle bis heute der Überblick, wie groß das Problem wirklich sei, sagt Johannes Rundfeldt. „Wir sind immer noch blind.“

Vier Referentenentwürfe, kein Gesetz

Einen Überblick erhoffte sich die Ampelregierung durch das sogenannte „Kritis-Dachgesetz“, das den physischen Schutz kritischer Infrastrukturen bündeln und einheitliche Mindeststandards für Betreiber festlegen sollte. Federführend war hierbei das Bundesinnenministerium von Nancy Faeser (SPD).

Doch die Ausarbeitung des Gesetzes verzögerte sich mehrfach. Am Ende brauchte es vier Referentenentwürfe, zu einer Verabschiedung kam es jedoch nie. Wegen des Diskontinuitätsprinzips des Bundestags muss der Gesetzentwurf von der kommenden Regierung nun erneut ins Parlament eingebracht werden. Dies solle „sehr zügig erfolgen“, erklärt das Innenministerium gegenüber dem Tagesspiegel.

Das jedoch darf bezweifelt werden. Denn das Ministerium wird künftig voraussichtlich von der CSU geführt. Die Union hat bereits deutlich gemacht, dass es den bisherigen Gesetzestext für inakzeptabel hält. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Detlef Seif bezeichnete ihn als „Ampelmurks“, Fraktionskollege Marc Henrichmann nannte ihn „Wischmopp“.

Bundesregierung riss die Frist der EU

Eigentlich war die Ampel verpflichtet, das Gesetz bis spätestens Oktober 2024 vorzulegen. Denn das Vorhaben geht nicht auf Eigeninitiative deutscher Politiker zurück, sondern wurde notwendig, um Vorgaben einer EU-Richtlinie umzusetzen. Dass die Bundesregierung die vorgegebene Frist der EU riss, nennt der CDU-Abgeordnete Detlef Seif ein „Trauerspiel“. Der Grüne Konstantin von Notz, Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums zur Überwachung der Nachrichtendienste des Bundes, sprach im Parlament von einer „leicht verschnarchten Sicherheitspolitik“ und erklärte, seine Partei hätte sich ein „deutlich ambitionierteres Vorgehen wirklich gewünscht”.

Kritische Infrastruktur

Als Kritische Infrastruktur gelten Anlagen und Systeme, die von zentraler Bedeutung für die Versorgung einer Gesellschaft und deshalb potenzielle Angriffsziele von Sabotageakten sind. In der Bundesrepublik fehlt es bislang an einheitlichen Kriterien, um festzulegen, welche Einrichtungen genau in diese Kategorie fallen.

Nicht bei jedem Vorfall, der publik wird, handelt es sich um Sabotage, sagt Johannes Rundfeldt von der AG Kritis: „Fast wöchentlich werden irgendwo in Deutschland Glasfasern versehentlich von Baggerfahrern zerrissen, und auch unschuldige Bürger besitzen Spielzeugdrohnen und lassen diese fliegen.“

Doch immer öfter kann der russische Ursprung von Aktionen nachgewiesen werden. Bei der zurückliegenden Bundestagswahl führte Russland nach Angabe des Bundesinnenministeriums „mehrere verdeckte Einflussoperationen und Kampagnen im Informationsraum durch, um die Wahl mit klandestinen Mitteln zu seinen Gunsten zu beeinflussen“. Insbesondere kurz vor dem Wahltermin habe es Operationen „mit erheblicher Reichweite“ gegeben, die Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Wahl säen sollten. 

Antiwestliche Propaganda und Einsatz von „Wegwerfagenten“

Erstmals räumt das Ministerium zudem ein, dass die Gruppierung „Storm-1516“, die in den sozialen Netzwerken und auf eigenen Webseiten gefälschte Inhalte verbreiteten, wohl aus Russland gesteuert wird: „Amerikanische Behörden, Microsoft sowie auch mehrere öffentlich zugängliche Recherchen gehen nachvollziehbar von einer russischen Kampagne aus.“ 

Im massiv gesicherten Saal 146 des Berliner Kammergerichts läuft aktuell der Prozess gegen einen ehemaligen Agenten des Bundesnachrichtendiensts wegen mutmaßlichem Landesverrats: Er soll dem russischen Geheimdienst FSB geheimes Material überreicht und dafür eine sechsstellige Summe kassiert haben. 

Gleichzeitig werden immer wieder Fälle bekannt, in denen sich Russland sogenannter „Low-Level-Agenten“ oder auch „Wegwerfagenten“ bedient: Über das Netz werden Freiwillige für einmalige Sabotageaktionen angeworben. Etwa die Männer, die im Dezember mehrere Hundert Autos beschädigten, indem sie deren Auspuffrohre mit Bauschaum verstopften. Für jedes Auto gab es ein Honorar von 100 Euro, behauptet einer der Festgenommenen. Die Taten sollten wohl den Eindruck erwecken, es handle sich um Aktionen radikaler Klimaaktivisten.

Experte sieht dringenden Änderungsbedarf

Eine zügige Verabschiedung des Gesetzes sei zwar nötig, sagt Johannes Rundfeldt von der AG Kritis. Zuvor müsse der vorliegende Entwurf jedoch überarbeitet werden. Denn obwohl er in seiner Zielbeschreibung verspreche, einheitliche Mindestverpflichtungen für kritische Einrichtungen festzulegen, sei genau dies nicht der Fall. Stattdessen regle der Entwurf lediglich, welche Behörden Verordnungen erlassen müssten, durch welche wiederum Mindestverpflichtungen vorgegeben würden. Und weiter: „Konkrete Handlungsanweisungen zur Erhöhung der Sicherheit für Kritis-Betreiber sind nicht enthalten.“

Die Abwägung der Notwendigkeit von Maßnahmen werde den Betreibern der Anlagen überlassen, sagt Rundfeldt. Dabei würden jedoch das Interesse der Bevölkerung an Versorgungssicherheit sowie das des Staates an öffentlicher Sicherheit von niemandem explizit vertreten: „Private Betreiber sollen folglich unter Berücksichtigung der eigenen Wirtschaftlichkeit den Risikoappetit der öffentlichen Hand festlegen.“

Ganz sicher ist es nicht die große Antwort auf die hybride Kriegsführung Russlands.

Experte Johannes Rundfeldt von der AG Kritis über das geplante Gesetz

Auch müsse das Gesetz sicherstellen, dass Evaluierungen regelmäßig durchgeführt und entsprechende Berichte auch veröffentlicht würden. Andernfalls befürchte er, dass diese Berichte außerhalb des Ministeriums nicht einsehbar seien.

Sollte die kommende Bundesregierung das Gesetz verabschieden, stelle dies lediglich einen „zaghaften Anfang“ im Bemühen um einen besseren Schutz der kritischen Infrastruktur dar. „Ganz sicher ist es nicht die große Antwort auf die hybride Kriegsführung Russlands.“ Strom- und Glasfasertrassen sowie Pipelines ließen sich aufgrund ihrer Ausdehnung nicht effektiv schützen, dies werde auch kein Dachgesetz ändern: „Wir müssen unsere Netze deswegen so gestalten, dass einzelne Störungen nicht zu einem Versorgungsausfall werden, und vorhandene Reaktionskapazitäten dahingehend ausbauen, dass einzelne Störungen schneller behoben werden können.“

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Das ganze Thema wurde vom federführenden Bundesinnenministerium „über Jahre verschleppt“, sagt Konstantin von Notz, der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums. Dabei hätten die Sicherheitsbehörden „angesichts stark gestiegener Bedrohungslagen immer wieder sehr vehement auf die Notwendigkeit gesetzlicher Nachbesserungen hingewiesen“.

Von Notz attestiert dem Haus und seiner Führung eine „Lethargie“. Gleichzeitig wirft er der Union vor, die Verabschiedung des Gesetzes in der vergangenen Legislatur aus parteitaktischen Überlegungen verhindert zu haben. Wie die künftige Regierung das Problem angehe, sei unklar: „Die Frage, ob man die vorliegenden Gesetzesentwürfe nimmt, um sie rasch im Parlament zu verabschieden, oder ob man tatsächlich gänzlich neu starten will, ist derzeit unbeantwortet.“