Der gesunde Menschenverstand ist manchmal erkältet. Wer Nachrichten schaut und Neuigkeiten aus der Ukraine oder den USA hört, reagiert möglicherweise mit emotionaler Verschnupfung. Und an gemütsmäßig besonders herbstlichen Tagen führt schon ein Rempler in der Fußgängerzone dazu, dass man den Weltuntergang nahen sieht und sich ein warmes Kirschkernkissen für die Seele wünscht.
Axel Hacke hat über diesen Zustand ein Buch geschrieben. Es heißt „Wie fühlst du dich?“. Der 69-Jährige macht sich darin Gedanken „über unser Innenleben in Zeiten wie diesen“. Für die Gegenwart findet er ein treffendes Bild: „Am liebsten würde man sich wie ein Bettler an den Straßenrand setzen, einen leeren Hut vor sich und ein Schild dazu, auf dem man nicht um Geld bäte, sondern um gute Nachrichten für eine Aufbesserung des eigenen Gefühlshaushalts.“
Der Kolumnist des SZ-Magazins ist mit seinen Buchveröffentlichungen in den vergangenen Jahren so etwas wie ein Befindlichkeits-Seismograph geworden. Er zeichnet Veränderungen in der zwischenmenschlichen Atmosphäre auf. Seine feinen Fibrillen registrieren, wie sich Verstimmtheiten verschieben. Während viele Soziologen es mit einer solchen Bestandsaufnahme bewenden und die Menschen damit allein lassen würden, geht Hacke weiter. Er pflanzt seiner Leserschaft eine Stimme ins Ohr. Sie hört sich an wie die von Axel Hacke und spricht wie ein Freund. Was sie sagt, fügt sich zur Bauanleitung für eine Räuberleiter zur Überwindung kleinerer Existenzkrisen: Für die Dauer der Hacke-Lektüre glaubt man felsenfest ans Gelingen des idealen Lebens. Vielleicht haben es die Bände „Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen“ und „Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte“ deshalb an die Spitze der Bestsellerliste geschafft.
Im neuen Buch begegnet man dieser wohltuenden Stimme wieder. „Fangen wir mal so an: Ich habe schlecht geschlafen.“ So geht es los, und man atmet gleich mal aus: Erzähl weiter. Hacke schreibt Essays, das heißt, er beginnt bei sich und weitet seine Beobachtungen ins Allgemeine. Da öffnet jemand sein Herz und gewinnt das Publikum dabei so lieb, dass er es unbedingt auf einen Erkenntnisstand heben möchte, auf dem es klüger, im besten Fall sogar leichter durchs Leben gehen kann.
In „Wie fühlst du dich?“ geht es um Überforderung und Ängste. Um Despoten und Autokraten. Um die Zornbereitschaft der Menschen, die in den sozialen Netzwerken begann und ins echte Leben übergegriffen zu haben scheint. Zum Hacke-Prinzip gehört, dass der Autor verschiedene Erzählfäden spinnt und auslegt: einen roten, der von Selbstzweifeln berichtet. Einen gelben, der von seinen eigenen Therapieerfahrungen handelt. Einen blauen, für den er sich Zitate aus Sekundärliteratur, Artikeln und Fernsehsendungen holt. Einen grünen, der aus dem Schönen besteht, das ihm begegnet. Diese Fäden zwirbelt er zu einem bunten Seil, das dick genug ist, um sich daran durch die eigene Wirklichkeit zu hangeln. „Empfindungen“, sagt Hacke, „sind kein Luxus. Sondern unentbehrliche Hilfsmittel im Leben.“
Manchmal klingt er ernst. Oft melancholisch. Aber immer scheint zwischen den Zeilen noch Licht. Das ist ein heiteres Buch. Es plädiert dafür, unser „Gefühlswissen“ auszuweiten. „Es geht um eine Fähigkeit zur Reflexion, um die Erkenntnis, dass man Gefühl und Vernunft nicht trennen kann, vor allem aber auch um Eigenständigkeit, darum, sich zu wehren gegen jene, die uns am Nasenring der Affekte durch die Welt führen möchten.“ Wir hätten eine Aufgabe, mahnt Hacke. Wir müssten uns darüber klar werden: „Was ist eigentlich mein Gefühl? Und was kommt von ganz woanders?“
Die Botschaft dieses menschenfreundlichen und empathischen Buchs ist: Wir haben es noch in der Hand. Und weil Axel Hacke keine Krawallschachtel aus dem Behauptungsbusiness ist, verzichtet er weitgehend auf Ausrufezeichen. Seine Hinweise und Ratschläge sind gut gelaunte Glühwürmchen, über deren Energie man sich im Dunkeln freut. Das Leben ist ein offener Prozess, so könnte man diese Handreichungen zusammenfassen. Deshalb misstraue allen, die Gewissheiten verkünden. Nimm Gefühle ernst – deine, aber unbedingt auch die der anderen. Hadere nicht mit der Welt, halte dich lieber an den ebenfalls wohltuend klugen Neurologen und Schriftsteller Oliver Sacks, der kurz vor seinem Krebstod ein Buch mit dem Titel „Dankbarkeit“ veröffentlichte. Darin heißt es: „Ich war ein fühlendes Wesen, ein denkendes Tier auf diesem schönen Planeten, und schon das allein war ein wunderbares Privileg und Abenteuer.“
Vielleicht könne man die große Welt nicht ändern, sagt Hacke. Aber die kleine. Gefühle seien ansteckend, das sagt Hacke auch. „Nicht nur Zorn steckt an, auch Zusammenhalt, Gemeinsinn, Zuversicht. Sie bleiben nicht bei uns, sondern wandern weiter. Unsere Verantwortung ist, einen Beitrag zu leisten.“
Jedenfalls hat man nach der Lektüre keinen Schnupfen mehr und keine Angst vor Ängsten. Sondern das Bedürfnis, rauszugehen und Leute zu treffen. Wie fühlst du dich? Schon viel besser.