Die Braunkohleabbaugebiete Hambach und Garzweiler sollen in gigantische Seen verwandelt werden – mit Wasser aus dem Rhein. Der Aufwand ist immens. Und der Plan birgt einige Tücken. Denn eine Aufbereitung des Wassers ist nicht vorgesehen.
Drei Dutzend Stufen führen hinauf auf eine Plattform aus Beton. Von dort reicht der Blick weit über den Tagebau Hambach, die aufgerissene Erde leuchtet in allen Ockertönen in der Herbstsonne. So tief ist dieses Loch, dass man auch von der Plattform nicht bis auf seinen Grund sehen kann: Bis zu 411 Meter haben sich die Braunkohlebagger in den Boden gefressen. Jetzt sind die Bagger weg, alles liegt still da wie eine Mondlandschaft. Doch in fünf Jahren soll hier ein Spektakel der Extraklasse Besucher anlocken – aus zwei riesigen Rohren, die unterhalb der Plattform zum Grubenrand geführt werden, soll dann das Wasser in Kaskaden unter großem Getöse in das Loch stürzen.
Die Befüllung der Tagebaue Inden, Hambach und Garzweiler; ihre Transformation in eine Seenlandschaft – das ist nach dem beschlossenen Ausstieg aus dem Braunkohleabbau eine der großen Herausforderungen des Strukturwandels im Rheinischen Revier. Zuständig und verantwortlich dafür ist der Energiekonzern RWE, der an der Kohleverstromung jahrzehntelang gut verdient hat. Der kleinste See am Standort Inden soll bereits in 25 bis 30 Jahren fertig sein – Grundwasser und Zuleitungen aus der nahen Rur reichen dort zur Befüllung. Langwieriger gestaltet sich der Vorgang in Garzweiler und Hambach. Wasser aus dem Rhein soll mithelfen, dass diese beiden deutlich größeren Abbaugebiete volllaufen. Dazu wird zwischen Köln und Düsseldorf, bei Dormagen-Rheinfeld, eine Entnahmestelle eingerichtet, die Vorarbeiten laufen bereits.
Der Plan sieht vor, das Rheinwasser durch drei 2,20 Meter dicke Rohre zu pumpen, eines zweigt später nach Garzweiler ab, die beiden anderen führen nach Hambach. Je nach Wasserstand des Rheins fließen bis zu 18 Kubikmeter pro Sekunde durch die 45 Kilometer lange Leitung – ein Schwimmbecken der Olympia-Norm wäre bei einer solchen Maximalfracht in gut zwei Minuten voll. Bei den Tagebauseen rechnet man mit 40 Jahren.
Was nach einer simplen Rechenaufgabe aussieht, ist in der Umsetzung eine hochkomplexe Angelegenheit. Das Grundwassersystem der ganzen Region muss in Planungen einbezogen werden. Die Stabilität der Grubenkanten darf bei der Flutung nicht unterspült werden. Außerdem gibt es Probleme mit den Verschmutzungen des Rheinwassers. Und Bedenken von Umweltschützern und Anwohnern.
Carina Siepen leitet das Landgasthaus Piwipp in Dormagen-Rheinfeld, ein Lokal, das schon ihre Vorfahren geführt haben – mit Terrasse und Blick auf den Rhein. Siepen ist 33 Jahre alt. Von der Idee, eine Wasserleitung vom Rhein zum Rheinischen Revier zu bauen, habe sie schon als Kind gehört. Als sich nun abzeichnete, dass das sogenannte Entnahmebauwerk keinen Kilometer südlich vom Haus Piwipp errichtet werden soll, bildeten Siepen und einige Gleichgesinnte eine kleine Widerstandsgruppe. „Die Kommunikation von RWE war anfangs katastrophal“, erzählt sie. Also fragte sie nach. Wie lange wird gebaut? Wo fahren die Lkw? Welche Umweltbelastungen bringt die Anlage mit sich? Vor drei Jahren, sagt Siepen, habe man ihr in der Lokalpolitik noch den Rücken gestärkt, auch der Bürgermeister stellte sich lautstark gegen das Projekt.
Doch er wurde mit der Zeit stiller, eine WELT-AM-SONNTAG-Anfrage an sein Büro versickert irgendwo in der Pressestelle. Jetzt kommen kritische Fragen nur noch von der kleinen Zentrumspartei. Die Dormagener scheinen sich in ihr Schicksal zu fügen. Vielleicht hat nachgeholfen, dass RWE ins Sponsoring der örtlichen Vereine eingestiegen ist. 70.000 Euro, so ein Unternehmenssprecher, habe man im vergangenen Jahr an Vereine und gemeinnützige Organisationen in Dormagen ausgezahlt.
Dass ausgerechnet das Dormagener Rheinufer für die Wasserentnahme ausgewählt wurde – das kritisiert auch der Umweltschutzverband BUND. „Dieser Standort liegt direkt in der Abwasserfahne der Chemieparks Dormagen und Leverkusen“, schreibt NRW-Geschäftsleiter Dirk Jansen. Die im Rheinwasser enthaltenen „Mikroschadstoffe wie die Ewigkeitschemikalien PFAS oder Mikroplastik“ würden die durch den Bergbau ohnehin schon belasteten Grundwasser-Vorkommen im Rheinischen Revier zusätzlich beeinträchtigen. Deshalb sei es dringend erforderlich, so Jansen, solche Stoffe aus dem Rheinwasser herauszufiltern, bevor man es in die Tagebau-Gruben pumpt. Doch das ist von RWE nicht vorgesehen.
Eine differenziertere Sicht der Dinge haben die Spezialisten des Erftverbands, die für die Erforschung und Beobachtung der Gewässer in und um den Braunkohleabbau zuständig sind. Die Befüllung der Gruben stelle die Wasserwirtschaft zwar vor eine Menge Herausforderungen, sagt Abteilungsleiter Stefan Simon. So gebe es mehrere Wasserwerke, die man aufgrund der dort zu erwartenden hohen Sulfat-Werte schließen müsse. Die Trinkwassergewinnung könne aber auf benachbarte Wasserwerke verlagert werden. Dass das Rheinwasser, das in die Tagebauseen Hambach und Garzweiler eingeleitet wird, in die künftig genutzten Trinkwasser-Reservoirs eindringe, könne man ausschließen – die sogenannte Bruchschollen-Tektonik des Untergrunds habe eine hydraulisch abdichtende Wirkung.
Und was ist mit der Wasserqualität in den Tagebauseen selbst? Möglicherweise trete dort eine Art Selbstreinigungseffekt ein, sagen die Experten des Erftverbands. Derzeit werde in Studien untersucht, ob die in den Abbaukratern reichlich vorhandenen Metalle Mangan und Eisen die aus dem Rhein einströmenden PFAS-Schadstoffe binden werden.
Dennoch müsse der Energiekonzern RWE seine bisherigen Planungen nachbessern, so heißt in den Stellungnahmen des Erftverbands. Um anschaulich zu machen, welche Probleme auf die Region zukommen, fahren der Grundwasserspezialist Simon und seine Kollegen mit Journalisten von Garzweiler aus nach Nordwesten, in ein kleines Waldstück am Rande von Wegberg, zum Mühlenbach, einem Zufluss der Schwalm. In dieser Naturidylle haben sich zwischen Erlen und Birken Sümpfe gebildet, die vom Grundwasser gespeist werden. In den 80er-Jahren beobachtete man, wie der Pegel in solchen von Torfmoosen und anderen seltenen Spezialisten bewachsenen Feuchtgebieten zu sinken begann. Das Wasser verzog sich nach und nach in die Richtung des rund 15 Kilometer entfernten Tagebaus Garzweiler. Und dort musste man, wie in jedem Bergbau, einströmendes Grundwasser herauspumpen, das sogenannte Sümpfungswasser.
Das Absinken des Grundwasserspiegels stellt aber nicht nur ein Problem für die Ökologie der Feuchtgebiete um die Flüsse Schwalm, Nette und Niers dar. „Ohne Gegenmaßnahmen würde dadurch auch die Wasserversorgung erheblich geschädigt“, so heißt es in einem Informationsschreiben des Erftverbands. Denn in Wegberg und Umgebung wird das Trinkwasser für mehrere Hunderttausend Menschen gewonnen – von Mönchengladbach bis zur niederländischen Grenze. Also fing man in den 90er-Jahren damit an, das Sümpfungswasser aus dem Tagebau Garzweiler wieder den nördlich davon liegenden Grundwasserreservoirs zuzuführen. Mit einem Verfahren, das erstaunlich simpel ist: Das Sümpfungswasser wird dazu in betonierte Schächte, die sogenannten Sickerschlitze, geleitet, die durch eine Kiesschicht im Boden direkt mit dem Grundwasser verbunden sind. Zuvor müssen lediglich Eisen und Mangan herausgefiltert werden – ansonsten hat dieses Wasser aus der Tiefe beste Qualität. So wuchs in den letzten Jahrzehnten ein 160 Kilometer langes Leitungsnetz heran, das ein ausgeklügeltes System aus Hunderten von Sickeranlagen versorgt.
Solange die Tagebauseen nicht vollständig mit Wasser befüllt seien, so erklärt Stefan Simon, müsse man dieses System aufrechterhalten. Doch Sümpfungswasser wird in der volllaufenden Grube nicht mehr anfallen, also müsse ein kleiner Teil des herbeigepumpten Rheinwassers für die Sickeranlagen abgezweigt werden. Rheinwasser, das ungeklärt in Grundwasser eingeleitet wird? Eine Vorstellung, die den Verantwortlichen des Erftverbands ganz und gar nicht gefällt – sie fordern wenigstens für diesen Teil des Rheinwassers eine gründliche Aufbereitung mit Ozonierung und Aktivkohlefiltern. RWE hingegen setzt auf das Prinzip Abwarten – und auf Berechnungen, wonach das Gemisch aus Rheinwasser und bereits vorhandenem Grundwasser die gesetzlichen Grenzwerte einhalten werde.
Noch sind also eine Menge Fragen ungeklärt. Nur das Ziel steht fest: 2070 soll die Seelandschaft fertig sein und die Rheinwasser-Transportleitung geschlossen werden. Und spätestens bis zum Jahr 2300 will RWE am ehemaligen Braunkohlerevier ein sich selbsttragendes Gewässersystem hinterlassen. Mit Ewigkeitskosten wie im Ruhrgebiet, so teilt ein Unternehmenssprecher mit, rechne man nicht.
afa