Anja Gmür hat für unser Treffen ein Restaurant beim U-Bahnhof des Westlondoner Stadtteils Wimbledon vorgeschlagen. Zur Begrüßung entschuldigt sie sich. „Ich bin extrem müde, tut mir sehr leid“, sagt sie. Die 31-jährige Popmusikerin wohnt in der Gegend und teilt sich mit ihrem Partner sowie vier Hasen, zwei Rennmäusen und einer Katze ein Haus. Letztere tauchen regelmäßig in ihren Social-Media-Posts auf und gehören für die Fans zu ihr wie die blauen Haare, ihr Hang zur Melancholie und der offene Umgang mit ihrer psychischen Gesundheit.
Erste Schlagzeilen machte die Schwyzerin 2020 mit ihrer Debütsingle I’m Getting Tired Of Me. Mit roher Stimme singt sie zu wohligem Popbeat über das Gefühl, von den eigenen Gedanken gefangen zu sein. Das dazugehörige Video zeigt sie während einer Panikattacke. Kings Elliot, wie sie mit Künstlernamen heißt, spricht offen über die Borderline-Erkrankung und die Angststörung, die bei ihr diagnostiziert wurden. Die vergangenen Tage habe sie von früh bis spät ein Video gedreht, sagt sie. „Es war intensiv und herausfordernd, ich hatte zwei Panikattacken.“ Trotz Müdigkeit wirkt sie frisch und voller Energie, sie lacht viel. Aber wie geht es ihr wirklich? „Gut“, sagt sie. „So beieinander und bei mir habe ich mich künstlerisch und persönlich noch nie gefühlt.“
Anja Gmür kommt 1994 zur Welt und wächst in Altendorf im Kanton Schwyz auf. Die Mutter ist Engländerin, der Vater Schweizer, die Tochter begeistert sich bald für Musik, tritt einem Chor bei und bewirbt sich mit 14 für die Schweizer Castingshow MusicStar. Ihr Talent wird zwar erkannt, sie kann aber nicht mitmachen, weil sie zu jung ist. 2013 nimmt sie bei The Voice of Switzerland teil und scheidet in der ersten Runde aus. Nach der Schule lässt sie sich zur Kauffrau ausbilden und zieht 2016 nach London, um ihrem großen Traum zu folgen und Popmusik zu studieren. Ein Jahr dauert die Ausbildung, danach lernt sie bei einem Nebenjob den Produzenten Conway Ellis kennen. Die beiden beginnen, gemeinsam Songs zu schreiben. Um ihre Ängste in den Griff zu bekommen, singt sie an Open-Mic-Abenden in Pubs. Dann färbt sie sich die Haare blau, und im November 2020 veröffentlicht sie I’m Getting Tired Of Me. „Es klingt doof, aber meine blauen Haare und mein Künstlername haben mir damals die Freiheit gegeben, mich ohne Filter auszudrücken.“ Kings Elliot – eine Kombination aus dem englischen Wort für Könige und dem Nachnamen ihrer Großmutter mütterlicherseits – soll ihr royale Kräfte verleihen und diese mit jenen ihrer Ahnen bündeln. Und tatsächlich findet sie mit ihren zutiefst traurigen, gleichzeitig sanft wiegenden Songs ein großes Publikum. Bald teilt die Schauspielerin Reese Witherspoon Kings Elliots Song Dancing Alone auf Social Media.
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2021 schließt sie einen Plattenvertrag mit Universal Music in Deutschland und den USA ab. Im Jahr darauf begleitet sie die Pop-Rock-Band Imagine Dragons und den Rapper Macklemore auf Tour durch die Vereinigten Staaten, danach den britischen Singer-Songwriter Sam Ryder in Europa. Bloß fehlt ihr die Zeit, ein eigenes Album zu schreiben. Auch hinterlässt das ständige Unterwegssein Spuren. Dass sich irgendwann alles um „meine Dämonen“ drehte, habe sie belastet, sagt Elliot. „Das tat mir nicht gut. Ich wollte mich aufs Heilen konzentrieren.“ Sie beschloss, sich in London in eine sechsmonatige Behandlung zu begeben: vier Therapiesitzungen pro Woche, dazu Gruppengespräche. Elliot lernte, „wie mit welchen Gefühlen umzugehen“. Heute weiß sie, wie wichtig Routinen für sie sind, regelmäßige Pausen – und ihr Team. „Sie kennen mich, verurteilen mich nicht und sehen mich auch nicht als Opfer. Wenn ich eine Panikattacke habe, machen wir eine halbe Stunde Pause, ich heule, werde gehalten, dann atmen wir tief durch und machen die Schminke neu – und nichts ist ein Problem.“
Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 41/2025. Hier können Sie die gesamte Ausgabe lesen.
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Nach der Therapie war sie bereit für ihr erstes Album. In Born Blue, das dieser Tage erscheint, wird deutlich, dass heute auch andere Themen ihre Kreativität beflügeln. „Es ist schön, einmal nicht über meine Dämonen zu sprechen, sondern über Dinge, die mir einfach sehr am Herzen liegen.“ Die LGBTQ-Community gehört dazu, der Umweltschutz, die Tierrechte. In der Ballade What if this World singt sie über die wachsenden gesellschaftlichen Gräben, den brennenden Planeten und den Schmerz, den sie ob alldem verspürt. Die Melancholie der frühen Jahre ist nicht verflogen, aber heute blitzt immer wieder eine Leichtigkeit auf. Nicht nur in den Texten, sondern auch in der Musik, die sie bis heute gemeinsam mit Conway Ellis komponiert. Whiskey and Wine etwa versprüht wie The Promise viel Tempo und ist gespickt mit Anspielungen an die Dance-Musik der 1980er-Jahre. Letzteres ist ein Highlight des Albums und überrascht mit seiner Entstehungsgeschichte: „Für die meisten klingt das Lied, als würde ich eine Beziehung besingen, die nach zehn Jahren auseinandergegangen ist“, sagt Elliot. Tatsächlich nimmt sie darin Abschied von ihrem Therapeuten.
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„Born Blue“ ist bei Universal Music erschienen. Live: 3. 10., Mühle Hunziken, Rubigen; 4. 10., Kuppel, Basel; 7. 10., Plaza, Zürich; 8. 10., Gaswerk Eventbar, Seewen