Die Zeit scheint sich erkennbar zu verlangsamen, als Angela Merkel auf die Schildkröte trifft. Es ist der Montagnachmittag in der Hansestadt Stralsund, wo die Bundeskanzlerin a. D. mit Ehren empfangen wird. Auch wegen ihres Einsatzes rund um die Renovierung des Meeresmuseums, das heute wiedereröffnet wird. Vor dessen Aquarium posiert sie gerade für ein Pressefoto. Neben ihr steht Manuela Schwesig, die Ministerpräsidentin der SPD in Mecklenburg-Vorpommern.

Da wird die Raute gemacht, da wird gelächelt, als eine der grünen Meeresschildkröten, ein 90 Kilogramm schweres Tier namens Käthe, über die Köpfe der Politikerinnen schwebt. „Wow“, sagt Merkel. „Wow“, sagt auch Schwesig. Sie drehen den Kameras den Rücken zu, recken die Köpfe nach Käthe.

Wie lange sie schon hier sei, will Merkel wissen. Seit 1986, erfährt man.

Das war also vier Jahre, bevor Angela Merkel nach Stralsund kam. 1990 wurde sie zum ersten Mal in ihrem Wahlkreis, rund um die Hansestadt und auf der Insel Rügen vorstellig. Um für den Bundestag zu kandidieren. Und dann wieder und wieder. Achtmal gewann sie das Direktmandat, 30 Jahre war sie die Abgeordnete der Menschen hier, sechzehn davon bekanntlich auch Kanzlerin

Und weil die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern Manuela Schwesig findet, dass das nicht nur dem Meeresmuseum und dem Wahlkreis 15 (er trägt den etwas sperrigen Namen Vorpommern-Rügen – Vorpommern-Greifswald) gutgetan hat, sondern dem ganzen Bundesland, weil sie Merkel „einen Glücksfall“ für ihr Bundesland nennt, hat sie die ehemalige Kanzlerin an diesem Montag nach Stralsund geladen. Um ihr den Landesverdienstorden zu überreichen.

Ist es fatal oder besonders lässig von Schwesig, sich mit der Wutfigur Merkel zu schmücken?

Und vielleicht auch ein wenig, um zu zeigen, wie gut politische Konstanz und Stabilität dem Land tun. Schließlich will Manuela Schwesig auch bald wiedergewählt werden, die Landtagswahlen im kommenden Jahr gewinnen. Beistand kann sie dabei gebrauchen. Fragt sich bloß, ob Angela Merkel die Richtige dafür ist.

© Lea Dohle

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Dann natürlich haben jene, die sich 2026 anschicken, Schwesig als Ministerpräsidentin abzulösen, zum Protest nach Stralsund geladen. Schließlich sieht die AfD in der Merkel-Ära den Anfang von jenem Untergang, den die Partei heraufbeschwört. Was ihr auch in Mecklenburg-Vorpommern zu nie da gewesenen Umfragewerten verhilft: Mit 38 Prozent führt die AfD die jüngste Umfrage an. Schwesigs SPD, die bei der Landtagswahl 2021 noch mit fast 40 Prozent deutlich gewann, ist um mehr als die Hälfte eingebrochen. Merkels CDU kommt gerade mal auf 13 Prozent.

Stellt sich also die Frage, ob es da besonders fatal von Schwesig ist, sich gerade jetzt mit der Wutfigur Merkel zu schmücken. Oder besonders lässig. Nun, so viel vorweg: Der Tag Stralsund verläuft überraschend ruhig, geradezu fröhlich. Aber deutlich wird auch, wie viel sich verändert hat, wie viel Zeit in nur vier Jahren vergangen ist, seitdem Angela Merkel sich aus der Politik verabschiedet hat.

Kulturstaatsminister Weimer glaubt, vom Meer könne man einiges lernen

Der erste Festakt des Tages, er gilt dem renovierten Meeresmuseum, findet in der zur Kulturstätte umgebauten St. Jakobi-Kirche statt: Das Leben unter Wasser, erfährt man nach einer Tanzperformance, es sei bunt und bedroht. Die viele Prominenz in der ersten Reihe deutet an, welch Aufwand es war, diese Renovierung zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Da sitzt der Oberbürgermeister von Stralsund, da sitzt eine Landesministerin, eine ehemalige Bundesbauministerin, da sitzt Kulturstaatsminister Wolfram Weimer, mehrere Abgeordnete, die Ministerpräsidentin, die Bundeskanzlerin a. D.

Sie alle, erfährt man, seien an der Finanzierung und Ermöglichung des Umbaus beteiligt gewesen, drei Bundesregierungen habe das Ganze gedauert. Den Anstoß habe Angela Merkel gegeben. „Dass es so viele Widrigkeiten gab“, sagt der hörbar bewegte Museumsdirektor Andreas Tanschus in seiner Rede, „habe ich in meinen schlimmsten Alpträumen nicht gesehen.“

Er zählt auf: 14 Monate vergaberechtliche Auseinandersetzungen gleich zu Beginn, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronapandemie, die des Krieges gegen die Ukraine, einen russischen Cyberangriff, der einen großen Teil der Arbeit an der neuen Dauerausstellung zunichtegemacht habe. Fünf Jahre dauerte der Umbau, deutlich länger und deutlich teurer als geplant. Dass die Modernisierung dennoch gelang, sagt Tanschus, sei eine „außerordentliche Gnade“.

Wolfram Weimer sagt daraufhin, man könne vom Meer (und wohl auch von der letztlich gelungenen Restaurierung des Meeresmuseums) ja so einiges lernen in diesen Tagen der aufgeregten Debatten: Ruhe, Gelassenheit, Lakonie.

Eine gute Nachricht: Merkels Paten-Pinguin lebt noch

Was eine gute Überleitung zu Angela Merkel ist, die nach ihm zum Rednerpult tritt und daran erinnert, wie viel erreicht wurde in den vergangenen 35 Jahren, wie schlecht es um Stralsund damals stand. „Es fehlte in der DDR zum Schluss an allem“, sagt sie, spricht vom „wahnsinnigen Restaurierungsprogramm“ der Stadt, von den Attraktionen, die man ansiedelte: das Ozeaneum etwa, ein Teil des Meeresmuseums, in dem auch ein Humboldt-Pinguin namens Alexandra lebt, dessen Patin Merkel vor Jahren wurde und den sie viel zu lange nicht gesehen habe. „Ich hoffe“, sagt Merkel, „Alexandra lebt noch.“ Sie müsse sie demnächst mal besuchen.

Wenig später, nachdem man vom wissenschaftlichen Direktor erfahren hat, dass Merkels Pinguin lebt und angeblich sehnsüchtig auf seine Patin warte, setzt sich die Festgesellschaft in Bewegung zum aufgehübschten Museum. Die Sonne flutet die Stralsunder Altstadtgassen, die Tanzkompanie hopst voraus, Merkel und Gefolge schreiten hinterher. Die Menschen winken, sie wollen Selfies, mit ihr, mit Schwesig. Dann wandelt man zwischen echten und digitalen Fischen im Museum, bestaunt Schildkröten, füttert sie mit Salatblättern. Später gibt es noch einen Halt in einem Restaurant, in dem Merkel schon mit dem Ex-Präsidenten George W. Bush war, mit François Hollande auch, wo man Bismarckhering nach Stralsunder Rezept verkauft.

Angela Merkel

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Fast hätte man da die Demo der AfD vergessen, die Wut auf Merkel, die politische Realität in Mecklenburg-Vorpommern. Es sind nicht viele, die sich vor dem Rathausplatz versammelt haben, die dem Ruf der AfD gefolgt sind. Aber sie sind da, halten Fahnen mit Friedenstauben in die Luft, hören Reden, in denen aufgezählt wird, wie viele Ausländer seit den Merkel-Jahren in das Bundesland gekommen seien.

Der Protest ist gut zu sehen, vom Festsaal aus. Schwesig erwähnt ihn bei der Ordensverleihung mit keinem Wort. Überhaupt scheint es lange so, als hätte man heute beschlossen, die Existenz der AfD einfach zu ignorieren. Merkel spricht zunächst ausdauernd von ihrem Nachfolger im Bundestag. Sie meint Georg Günther von der CDU. Der kommt zwar aus Merkels altem Wahlkreis, sitzt im Publikum und auch im Bundestag. Aber das Direktmandat hat er nicht gewonnen. Es ging, wie alle in Mecklenburg-Vorpommern, an die AfD.

Wobei Ignorieren natürlich schwerlich möglich ist, wenn der Krach ihrer Trommeln, Tröten und Trillerpfeifen die gesamte Ordensverleihung begleitet.

Ein Foto von 2018 – wie aus einer anderen Zeit

Schwesig spricht von einem berühmten Foto von Merkel, vom Anfang ihrer politischen Kariere auf der Insel Rügen. Es zeigt Merkel als junge Frau mit Fischern in einer Fischerhütte. Schwesig sagt, das Foto wirke wie aus einer anderen Zeit. Derweil werden andere Fotos an die Wand projiziert, von Merkel und Schwesig, vor ein paar Jahren – 2018 im Strandkorb etwa, bei einer Touristikmesse. Sie wirken wie aus einer anderen Zeit.

Merkel sei immer eine wertvolle Verbündete für das Bundesland in Berlin gewesen. Schwesig nennt die Fertigstellung der A 20 in Mecklenburg-Vorpommern, den Bau der Rügen-Brücke, die Werften und die maritime Industrie im Land oder eben das Meeresmuseum – für all das habe sich Merkel eingesetzt. Sie habe anders Politik gemacht als die meisten Männer, unaufgeregter, weniger auf Selbstdarstellung aus. Jetzt, wo sie nicht mehr da sei, sehe man außerdem, wie gut sie ihre Bundesregierungen zusammengehalten habe. „Wie schwer das ist, sehen wir, seitdem Sie nicht mehr da sind“, sagt Schwesig.

Merkels beste Rede, sagt die Ministerpräsidentin noch, sei ihre letzte Einheitsrede als Kanzlerin gewesen, in Halle 2021. Damals sprach Merkel zum ersten Mal über die Verletzungen, die sie erfahren habe, als Ostdeutsche: dass man ihre DDR-Biografie Ballast genannt hatte, sie selbst eine „angelernte Bundesdeutsche“.

„Wir sind das Volk“, diesen Ruf dürfe man sich nicht wegnehmen lassen

Merkel nennt den Orden eine „große Ehre“, sie verstehe ihn als Dank für eine ganze Generation, die sich nach dem Mauerfall engagiert habe. Merkel verliert jetzt zwar kein wenig von der Ruhe, die sie und das Meer, wie es Wolfram Weimer versteht, ausmachen. Aber der Ton wird deutlich ernster, ja, schwerer. Merkel sagt, man müsse offener über die Verletzungen sprechen, die etwa die Massenarbeitslosigkeit der Neunziger im Osten hinterlassen habe, sie spricht über das Einkommensgefälle zwischen Ost und West, über die Verwerfungen der Wiedervereinigung, über deren Folgen etwa für „Resilienz“, wie sie sagt, die im Osten weniger ausgeprägt sei.

Und spätestens hier ist die Stralsunder Festgesellschaft im Jahr 2025 angekommen. Bei den Protesten vor der Tür, bei den 38 Umfrageprozent für die AfD.

Angela Merkel sagt: „Wir sind wieder ganz harten Bedrohungen ausgesetzt, auf die wir uns vorbereiten müssen.“ Man müsse jenen entgegentreten, die versuchten, auszusortieren, wer zum Volk gehöre und wer zu einer angeblichen Elite. An die Menschen im Saal gerichtet, sagt Merkel: So sortiert gehöre wohl keiner der Anwesenden zum Volk. Man dürfe sich den Ruf des Mauerfalls, das „Wir sind das Volk“, nicht wegnehmen lassen. Man müsse dafür kämpfen, sagt Merkel, dass alle deutschen Staatsbürger das Volk seien, ohne Ausnahme.

Als der Applaus erlischt, hat sich der Protest vor dem Rathaus bereits aufgelöst. Einzelne AfD-Politiker geben noch Interviews, ein paar Demonstranten laufen mit Trommeln und Deutschlandfahnen durch die Straßen.