Am Freitag, dem 3. Oktober 2025, dem Tag der Deutschen Einheit, blicken wir zurück auf 35 Jahre vereintes Deutschland in der europäischen Gemeinschaft. Doch vor der Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 stand die Friedliche Revolution im Oktober 1989. Mit den Friedensgebeten und Demonstrationen vor, am und nach dem 09. Oktober 1989 in Dresden, Plauen und Leipzig befreite sich die Bevölkerung von der SED-Diktatur und dem System von Bevormundung und Demütigung.
Insofern sind die Tage im Oktober dazu angetan, über die anhaltende Bedeutung der Friedlichen Revolution, des Aufbruchs zur Demokratie und des vereinten Deutschlands, eingebettet in die Europäische Union, nachzudenken. Noch wichtiger ist aber, dass sich das vereinte Deutschland auch heute versteht als ein Land im Aufbruch. Ein Land, das dieser Welt eine neue Geschichte erzählen kann: wie sich ohne Gewalt und Blutvergießen eine Revolution vollziehen und Demokratie, Freiheit, Menschenrechte errungen werden können.
Auf diesem Hintergrund sollte es jeder im Rückblick mehr als erschrecken, dass sich schon wenige Monate nach der Friedlichen Revolution 1990 auf dem Balkan neue kriegerische Auseinandersetzungen abzeichneten und Anfang 1991 der zweite Golfkrieg vom Zaun gebrochen wurde – so, als ob den Menschen ganz schnell die Hoffnung auf gewaltfreie Veränderungsprozesse genommen und das Diktat militärischer Interventionspolitik schnell wieder eingetrichtert werden sollte.
Niemand sollte der „Illusion“ (die aber eine erfahrene Wirklichkeit war!) aufsitzen, dass friedliche Veränderungsprozesse abseits von gegenseitigen militärischen Bedrohungspotentialen und ohne kriegerische Gewalt möglich sind. Parallel dazu war 1991 die damalige Bundesregierung der Überzeugung, dass die deutsche Einheit „aus der Portokasse“ bezahlt werden könne, während gleichzeitig 17 Milliarden DM für den zweiten Golfkrieg locker gemacht wurden.
An dieser friedenspolitischen Schieflage hat sich in 35 Jahren bis heute leider wenig geändert – und dies, obwohl alle Kriege und militärischen Interventionen nichts anderes als verbrannte Erde und unendliches menschliches Leid hinterlassen haben.
Von daher gesehen ist es eine ziemlich absurde Anmaßung, 35 Jahre nach der Friedlichen Revolution und im vollen Wissen um die verheerenden Auswirkungen der in dieser Zeit geführten Kriege jetzt eine unbegrenzte Aufrüstungspolitik in Gang zu setzen (mit einer völlig willkürlich festgelegten Prozentzahl Anteil am Bruttosozialprodukt, nämlich Fünf, und einer nach oben unbegrenzten Ausgabesumme).
Diese sind Ausdruck der gleichen Schieflage, wie 1991 entstanden ist: Dringend notwendige Investitionen im Bildungsbereich und zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen werden zugunsten der Ausgaben für militärische Zwecke zurück- bzw. eingestellt.
Diese Entwicklung hat in den vergangenen Jahren zu der absurden Situation geführt, dass sich rechtsnationalistische Bewegungen wie die AfD als „Friedenspartei“ aufspielen und damit bei Wähler/-innen punkten können – ganz zu schweigen von der höchst gefährlichen Situation, dass den Rechtsnationalisten, sollten sie jemals an die Schalthebel der Macht kommen, dann ein riesiger Militärapparat zur Verfügung steht.
Wenn man dann noch bedenkt (Donald Trump macht es derzeit vor), wie Rechtsnationalisten nach innen wie nach außen mit dem Militär zündeln, kann einem nur angst und bange werden.
Darum ist es höchste Zeit, dass wir 35 Jahre nach 1990 den neuerlichen Aufbruch zur Demokratie mit einer Politik verbinden, die nichtmilitärischen Konfliktlösungen den Vorrang gibt und an die Erfahrungen mit dem KSZE-Prozess der 70er/80er Jahre und der Friedlichen Revolution in Ostdeutschland und Osteuropa anknüpft. Wir haben allen Grund, einen solchen Politikwechsel und eine europäische Friedenspolitik sehr selbstbewusst anzumahnen.
Denn nicht die auf Minimierung von kriegerischer Gewalt setzende Politik ist eine Illusion, sondern die Vorstellung, mit militärischer Intervention Frieden herstellen zu können. Dabei sollte alarmierend genug sein, dass sich derzeit immer mehr Mächte dieser zerstörerischen Strategie bedienen: Russland, China, USA, Israel und die vielen Zellen privatisierter militärischer Gewalt auf dem afrikanischen Kontinent. Doch diese Politik hinterlässt – wie der verheerende Afghanistan-Krieg gezeigt hat – nichts als verbrannte Erde im Innern wie nach außen.
Wollen wir als Europa und nach den Erfahrungen der Friedlichen Revolution uns weiter auf dieser Ebene bewegen bzw. auf sie ziehen lassen? Es ist höchste Zeit, hier umzusteuern und an die Traditionen anzuknüpfen, die friedliches Zusammenleben verheißen. Der 3. und 9. Oktober 2025 sind Anlass genug, die Weichen neu zu stellen.
Christian Wolff, geboren am 14. November 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er lebt in Leipzig und ist gesellschaftspolitisch in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens engagiert. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/