Stand: 01.10.2025 06:00 Uhr
Der 22-jährige Schweizer Schriftsteller Nelio Biedermann erzählt die Geschichte einer ungarischen Adelsfamilie in den Fängen des katastrophalen 20. Jahrhunderts – die Geschichte seiner eigenen Familie.
Was tun Schriftsteller eigentlich, dass sie so gefeiert werden? Eva Lázár, eine junge Frau im Budapest der 1950er-Jahre, gerade verliebt in einen Untergrunddichter, hat einen fürchterlichen Verdacht: Eigentlich ist der Schriftsteller ein Räuber; er raubt seinen Figuren die Selbständigkeit.
Er legt ihnen Kriege in den Weg, schreibt ihnen Depressionen ins Gemüt oder entreißt ihnen ihre erste Liebe. Ein Machtgefälle wie zwischen Täter und Opfer, wenn auch nur in der Fiktion. Die Figuren können sich nicht wehren, der Schriftsteller macht mit ihnen, was er will, lässt sie leiden und vergeblich hoffen, um sich seiner Überlegenheit zu vergewissern.
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Nelio Biedermann erzählt atmosphärisch dicht und emotional
Eva, die nun selbst zur Figur in einem Roman geworden ist, fasst diesen gut zusammen: Kriege, Depressionen, Liebe, Liebesleid, die Vergeblichkeit aller Dinge, davon erzählt „Lázár“ in der Tat ausschweifend. Aber ihr Vorwurf ist ungerecht: Nicht der Schriftsteller in seinem Wahn denkt sich das alles aus; es ist das Leben, es ist Schicksal. Die Arbeit, nein: die Kunst des Schriftstellers besteht einzig darin, eine Sprache zu finden für all das viele Elend und das kleine bisschen Glück. Und Nelio Biedermann – gute Güte, der hat eine Sprache, dass es nur so rauscht!
Der Roman beginnt im Schnee, und er endet im Schnee, und dazwischen liegen viele Jahrzehnte voller Düsternis, denn die Geschichte der südungarischen Adelsfamilie Lázár ist eine Geschichte des Niedergangs. Fielen die Vorfahren noch dem Alkohol, der Depression oder dem Wahnsinn zum Opfer, so sind Lajos und seine Kinder wenn nicht schuld-, so doch aber hilflos dem Wüten der Weltgeschichte ausgesetzt. Krieg, Verstrickung in den innerlich doch abgelehnten Nationalsozialismus, Flucht, Enteignung, Verfolgung machen alle Ambition, alle Träume zunichte. Wie atmosphärisch, wie wundersam lakonisch, wie erdrückend, dass es einem die Gurgel zuschnürt, ist das auf vielen Seiten beschrieben!
Schon glaubt er, Schritte zu hören; sie kommen auch näher, aber dann entfernen sie sich. Und der Streifen Licht unter seiner Tür ist verschwunden. Es war nicht der Tag, es ist Mitternacht; man hat gerade das Flurlicht gelöscht, der letzte Diener ist gegangen – und er wird nun die ganze Nacht leiden müssen.
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Klischees und sprachliche Schlaumeiereien
Und doch, und doch – da ist etwas sehr Seltsames an diesem Roman. Irgendetwas stimmt da nicht! Es ist, als wäre ein Trio aus Takis Würger, Roland Schimmelpfennig und Florian Illies nachts bei Nelio Biedermann eingebrochen und hätte an seinem Manuskript herumgepfuscht.
Wie Sándor lebte Herr Jakubowski in der Vergangenheit – aber einen anderen Ort gibt es für manche Menschen nicht. Wie seltsam der Tod war, und wie leicht er das Leben durcheinanderbringen konnte! Der Schriftsteller fürchtet sich vor nichts mehr als vor dem Glück. Da aber weder Lilly noch Lajos Schriftsteller waren, lebten sie in ihrem Glück wie Tiere.
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Leider ist dieser in der Anlage so verheißungsvolle Roman voll von solchen Schlaumeiereien fürs Poesiealbum, voll auch von sprachlichen Ungetümen und hölzernen Klischees, seltsam unorganisch hineingezwungen in einen Text, der doch eigentlich so viel mehr verspricht. Man fragt sich: Ist hier zu wenig oder zu viel lektoriert worden?
Mehr Vermeer wagen!
Eva Lázár sinniert über den Unterschied zwischen einem Schriftsteller und einem Maler wie Vermeer. Der Schriftsteller eigne sich also brutal das ganze Leben seiner Figuren an, während Vermeer all ihre Geschichten …
… nur andeutete, nie mehr als einen flüchtigen Blick in ihr Leben gewährte, als sei es ihm wichtig, ihnen ihre Geheimnisse zu lassen. Er hielt nur Augenblicke fest und positionierte seine Figuren fast immer an Fenstern, so dass sie die Möglichkeit hatten, hinauszublicken.
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Genau so aber wünscht man sich den nächsten Roman Nelio Biedermanns. Mehr andeuten, mehr in der Schwebe lassen, mehr Vermeer wagen!, möchte man ihm zurufen, diesem so wahnsinnig begabten, sonderbaren, jungen Schriftsteller.
Lázár
von Nelio Biedermann
- Seitenzahl:
- 336 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Rowohlt
- ISBN:
- 978-3-7371-0226-1
- Preis:
- 24 €
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