Die Bürgermeister anderer europäischer Hauptstädte tragen Anzug, Vitali Klitschko trägt militärisches Olivgrün. Auf dem linken Oberarm leuchtet die Flagge der Ukraine, auf dem rechten das Stadtwappen von Kiew. In seinem Büro im 9. Stock des Kiewer Stadtrats-Gebäudes hängen neben Stadtansichten und Karten die Flagge einer Armee-Brigade. Klitschkos Haare sind grau geworden, die Schatten unter den Augen sind tief.

Denn der ehemalige Profi-Boxer regiert eine Hauptstadt im Krieg. Und nie stand sie mehr unter Beschuss als jetzt.

Regelmäßig steigen über Kiew Schwärme von hunderten russischen Drohnen auf, versuchen die ukrainische Luftabwehr zu überwältigen. Häufig schicken die Sirenen des Luftalarms die Menschen mehrmals am Tag – und vor allem mehrmals in der Nacht – in ihre Schutzräume.

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Drohnen über Kiew: Drei Mal so viele Attacken wie im vergangenen Jahr

1845 Mal habe es in den vergangenen 12 Monaten in Kiew Luftalarm gegeben, sagt Klitschko. Verglichen mit letztem Jahr habe sich die Zahl der Attacken verdreifacht. Alle anfliegenden russischen Drohnen und Flugkörper könne man nicht abschießen, aber „die Mehrheit“ könne abgewehrt werden. Unter anderem mit den Iris-T-Systemen, die Deutschland geliefert hat.

Diejenigen Angriffe, die die Verteidiger nicht abwehren können, kosten in Kiew immer wieder Leben. Erst am vergangenen Wochenende war bei einem Drohnenangriff ein 12-jähriges Mädchen in einem Kiewer Mehrfamilienhaus ums Leben gekommen. Seit Russland im Februar 2022 seinen Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine begonnen hat, sind laut Klitschko in Kiew 300 Menschen getötet worden, 30 davon Kinder.  

Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion

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Auch im Stadtbild ist der Krieg präsent. Auf den Plätzen sind die Statuen eingepackt in Sandsäcke und Gerüste, um sie vor Luftschlägen zu schützen. Auf dem Maidan – wenige Minuten von Klitschkos Amtssitz entfernt – stehen dicht an dicht ukrainische Flaggen und Blumen, dazwischen die Fotos gefallener Soldaten. Für viele Menschen aus den Regionen nahe der Front ist die Hauptstadt eine Zuflucht geworden. Schätzungen zufolge sind rund 400.000 der drei Millionen Einwohnerinnen und Einwohner geflüchtet.

Heizung und Strom: Die Stadt bereitet sich auch auf „ein schlechtes Szenario“ vor

Und ihnen allen droht ein kalter Winter. Denn die Luftangriffe zielen auch auf die Versorgung des Landes mit Energie. „Wir sind gut vorbereitet“, beteuert Klitschko, doch eine „hundertprozentige Garantie“ für Sicherheit könne auch die modernste Luftabwehr nicht bieten. „Wir bereiten uns auf verschiedene Szenarien vor, auch auf ein schlechtes Szenario.“

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Ein schlechtes Szenario, das bedeutet: Zerstörte Umspann- und Heizkraftwerke, zahlreiche Menschen, die im bevorstehenden Winter abgeschnitten sind von der Versorgung mit Wärme und Strom. Seit Jahren greift Russland immer wieder gezielt Energieinfrastruktur an. Die Attacken sind Teil einer Strategie, die auf die Zermürbung der Bevölkerung ausgelegt ist. „Das ist Kampf gegen Zivilisten“, sagt der Bürgermeister, „das ist Völkermord, anders kann ich es nicht nennen.“

Die Stadt bereitet sich vor, so gut es geht. Mit Reserven an Generatoren, mit Notfallplänen. Soziale Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen und Kindergärten haben Priorität.

Die Menschen seien müde, sagt Klitschko, aber sie würden weiterkämpfen. Und er selbst, er dürfe nicht müde sein. „Aber ich bin auch ein Mensch“.