Der 1973 erschienene Jugendroman „Momo“ von „Die unendliche Geschichte“-Autor Michael Ende zählt zu den erfolgreichsten Werken der deutschen Fantasy-Literatur. Der mythologisch aufgeladene Kampf eines Waisenmädchens für zwischenmenschliche Solidarität und gegen den gierigen Kapitalismus berührt den Nerv der Leserschaft bis heute. Viel zur anhaltenden Popularität des Buches beigetragen hat dabei auch die 1986 in den Kinos gestartete, bisweilen zwar kitschig und naiv anmutende, aber trotzdem liebenswerte und berührende Verfilmung mit der späteren „Dschungelcamp“-Teilnehmerin Radost Bokel in der Titelrolle.
Fast 40 Jahre später wagt „Vorstadtkrokodile“-Regisseur Christian Ditter jetzt eine Neuauflage. Einige seiner Modernisierungsversuche funktionieren, viele aber auch nicht. Der eher nachdenkliche Ton der Vorlage wird einem erratisch und hektisch anmutenden Schnitt sowie einigen Actionszenen der Marke „Hollywood Light“ geopfert. Auch was den Look betrifft, werden Leser*innen häufig Probleme haben, die neue „Momo“-Verfilmung mit den Beschreibungen des Romans unter einen Hut zu bekommen.
Constantin Film Verleih
Mit Hilfe der magischen Schildkröte Kassiopeia nimmt es Momo (Alexa Goodall) mit den graugekleideten Zeitdieben auf.
Momo (Alexa Goodall) lebt allein in einem improvisierten Verhau in der Ruine eines römischen Amphitheaters. Aber einsam ist die Vollwaise deshalb noch lange nicht. Denn Momo hat viele Freund*innen – allesamt Leute, die gern Zeit mit dem aufgeweckten und einfühlsamen Mädchen verbringen. Momo ist allen gegenüber aufmerksam, ihre liebsten Menschen sind jedoch der gutmütige alte Straßenkehrer Beppo (Kim Bodnia), der Momo regelmäßig mit Essen versorgt, sowie der jugendliche Fremdenführer Gino (Araloyin Oshuremi), mit dem sie gern durch die Straßen stromert.
Doch plötzlich scheint niemand mehr Zeit für Momo zu haben. Offenbar haben die mysteriösen, allesamt in Grau gekleideten Gestalten damit zu tun, die vor Kurzem in der Stadt aufgetaucht sind. Momo findet heraus, dass sie unter der Leitung von Richter (Claes Bang) für einen Konzern arbeiten, dessen Ziel es ist, sich die kostbare Lebenszeit aller Menschen anzueignen. Doch niemand glaubt ihr – mit Ausnahme der Schildkröte Kassiopeia, die sie zum weisen Meister Hora (Martin Freeman) lotst…
Ein blitzeblanker Hochglanz-Look
Fans des Romans, die sich eine originalgetreue Adaption wünschen, werden starke Abstriche machen müssen. Zunächst fällt auf, dass Momo in Michael Endes Buchvorlage doch sehr anders ausschaut. Mit ihrer langen roten Mähne anstelle kurzer, schwarzer Strubbelhaare, strahlend blauer anstelle tiefdunkler Augen, einer leichten Jacke anstelle eines knöchellangen Mantels fällt es schwer, sie auf den ersten Blick direkt als die Titelheldin zu identifizieren. Aber so eine Neuerung muss natürlich nicht automatisch etwas Schlechtes sein – und schon gar nicht ist es die Schuld der Jungmimin Alexa Goodall („Ein Gentleman in Moskau“), die sich mit viel Enthusiasmus die Sympathien erspielt.
Aber der Rest des Film-Looks ist ebenfalls nicht wirklich stimmig: Die in Kroatien und Slowenien errichteten Sets wirken allesamt zu steril und aufgeräumt. Selbst nach einer großen Party im Kolosseum sehen die leeren Flaschen, Plastiktüten und Papierknäuel nicht aus wie achtlos fallengelassen, sondern wie von der Requisite gleichmäßig drapiert. Und der praktischerweise immer zum passenden Moment am richtigen Ort der Stadt auftauchende Straßenkehrer hat eigentlich gar nichts zu kehren, da alles schon vor seinem Einsatz blitzblank ist – als wäre jemand anderes aus seinem Team erst Minuten vor dem Rollen der Kameras genau an diesem Fleck aktiv geworden.
Constantin Film Verleih
Mit „Hobbit“-Hauptdarsteller Martin Freeman hat die „Momo“-Neuverfilmung auch einen echten Weltstar zu bieten.
Zudem lassen schnelle Cuts und gewagte Kamerabewegungen, aber auch Zeit- und Ortssprünge das Ganze zusätzlich hektisch, gelegentlich sogar holprig wirken. Dies beraubt „Momo“ der von Romanautor Michael Ende beabsichtigten, märchenhaften Nachdenklichkeit und steuert den Film eher in Richtung knackiger Young-Adult-Event-Action à la „Die Tribute von Panem“. Gut umgesetzt wurde indes die Idee mit den elektronischen Funkarmbändern, die die grauen Fieslinge an die Stadtbewohner*innen verteilen, um sie kontrollieren und ihrer Lebenszeit berauben zu können.
Es ist relativ leicht zu durchschauen, dass diese Smartwatches ähnelnden Dinger unsere längst schon mehr als besorgniserregende Abhängigkeit von Smartphones beziehungsweise den sozialen Netzwerken versinnbildlichen sollen. Ebenfalls positiv ist Claes Bangs („The Square“) überzeugende Darstellung des gleichermaßen intelligenten wie gewissenlosen Chef-Bösewichts – und auch der melancholisch anmutende Auftritt von Laura Haddock („Guardians Of The Galaxy“) als eine seiner Scherginnen trifft ins Ziel. Schade, dass die Motive und die Vorgehensweise der Grauen nur recht schwammig skizziert werden. Zugegeben: Das war beim alten Film auch schon so – was es hier allerdings nicht besser macht.
Kein neuer Schildkröten-Boom in Sicht
Die im Buch sehr wichtige Beziehung von Momo zu Meister Hora und der von ihm gesandten Schildkröte kommt hier mal mehr, mal weniger gut rüber. Während der von „Der Hobbit“-Star Martin Freeman verkörperte Hüter der Zeit lediglich zwei, drei Szenen hat und diese teilweise schlafend verbringt, hat Kassiopeia einen deutlich umfangreicheren Auftritt. Dieser kann zwar aufgrund mittelmäßiger CGI visuell nicht wirklich begeistern, ist in Bezug auf die Handlung aber erfreulich nah an die Vorlage angelehnt und erhält sogar noch ein paar passende Ergänzungen.
Zu einem Boom bei der Nachfrage nach gepanzerten Kriechtieren in Zoohandlungen, so wie damals in den 1980ern, als der erste Film veröffentlicht wurde, wird „Momo“ dieses Mal aber wohl nicht führen. Da scheinen die zur „Fernsteuerung“ benutzten Armbänder beim jungen Publikum ironischerweise deutlich populärer zu sein – das zumindest war nach der von FILMSTARTS besuchten Pressevorführung im Kinofoyer unter einigen der anwesenden Kids zu vernehmen.
Fazit: Die „Momo“-Neuauflage macht bei ihrem Versuch, den Kult-Roman und die kaum weniger verehrte erste Verfilmung ins Hier und Jetzt zu transferieren, einige Dinge gut, viele andere aber auch gehörig falsch. Wer den Roman nicht kennt, wird sich nach der diesmal arg generisch anmutenden Story vermutlich fragen, warum Millionen von Menschen die Buchvorlage eigentlich so innig lieben.