Am Ende fliegt der Kanzler mit einem „sicheren Gefühl“ zurück nach Deutschland. Zwei Tage hat er in Kopenhagen verbracht, erst beim informellen EU-Gipfel, dann beim Treffen der Europäischen Gemeinschaft, zu der auch zahlreiche Nicht-EU-Staaten gehören. Am Donnerstagnachmittag dann sagt er, kurz vor seiner Abreise: „Ich werde jeden Weg unterstützen, der es ermöglicht, russische Vermögenswerte zu nutzen, um der Ukraine weiter zu helfen und dafür zu sorgen, dass dieser Krieg möglichst bald zu einem Ende kommt.“ Und: Er habe ein „sicheres Gefühl“, dass es eine sehr große Übereinstimmung gebe, diesen Weg zu gehen.

Ein Gefühl ist natürlich noch lange kein Beschluss. Das weiß auch Friedrich Merz. Allerdings war ein formeller Beschluss auch nie vorgesehen beim informellen Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs am Mittwoch in Kopenhagen. Der Wesenskern solcher Zusammenkünfte ist es schließlich, sich offen auszutauschen, eine mehr oder weniger grobe Richtung zu verabreden, zu sondieren, was geht – und was nicht.

Belgien und Luxemburg melden Bedenken an, wenn es um Russlands Milliarden geht

In diesem Sinne war der Gipfel beinahe idealtypisch. Statt erhoffter Beinahe-Einigungen zeigte der Gipfel vor allem die Bruchlinien innerhalb Europas auf. Mit den zwei wichtigsten Erkenntnissen: Erstens wird der angedachte Befreiungsschlag in Sachen Ukraine-Unterstützung komplizierter als erhofft. Und zweitens sind sich beim Ziel einer verteidigungsfähigen EU bis 2030 zwar im Grunde alle einig, beim Weg dorthin aber keineswegs.

Bei Ersterem geht es um den Vorschlag der EU-Kommission, eingefrorenes russisches Vermögen in Höhe von 140 Milliarden Euro in einen Kredit für die Ukraine zu verwandeln, den diese erst dann zurückzahlen müsste, wenn Russland nach einem Ende des Kriegs Reparationen leistet. Merz hatte den Vorstoß schon vorige Woche unterstützt.

Der Mittwoch aber zeigte: Die Hürden sind womöglich höher als gedacht. Vor allem Belgien meldete gravierende Bedenken an, auch Luxemburg ist noch skeptisch. Belgien ist Heimat des Finanzkonzerns Euroclear, bei dem ein Großteil des eingefrorenen russischen Vermögens liegt. Das Unternehmen spielt eine öffentlich unsichtbare, aber wesentliche Rolle für Europas Finanzmarktstabilität. Insofern geht es über belgisches Nationalinteresse hinaus, das Unternehmen vor möglichen Haftungsrisiken wegen der Russland-Milliarden abzuschirmen. Die Regierung in Brüssel ist außerdem darauf bedacht, nicht allein für Euroclear in der Kreide zu stehen.

Belgiens Ministerpräsident Bart De Wever äußerte sich am Donnerstag vor der Presse zurückhaltender als offenbar am Vortag im Kreise der Staats- und Regierungschefs. Belgien sei nicht grundsätzlich gegen eine Verwendung der Mittel, sagte er. Zuvor müssten aber „alle für Belgien wichtigen rechtlichen Fragen“ geklärt werden. Luxemburgs Premier Luc Frieden, dessen Land ebenso wichtige Teile von Europas Finanzmarkt-Architektur beherbergt, sagte: „Man kann auf diese Weise nicht einfach etwas wegnehmen, das einem anderen Staat gehört. Was geschieht, wenn Russland nicht zurückzahlt?“

Je weiter im Westen, desto weniger Interesse an einem Drohnen-Schutzwall

Auf die anderen Gipfelteilnehmer machte das durchaus Eindruck. Einen besseren Vorschlag, um die ukrainische Verteidigungsfähigkeit langfristig abzusichern, gibt es derzeit allerdings nicht. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bemühte sich dementsprechend am Mittwochabend, die Bedenken zu dämpfen: Der geplante Kredit basiere zwar auf dem eingefrorenen russischen Staatsvermögen, aber es sei eben keine Verwertung der Mittel. Der russische Anspruch auf das Geld bleibe erhalten. „Die Risiken müssen auf breitere Schultern verteilt werden“, sagte sie außerdem in Reaktion auf die Bedenken Belgiens und Luxemburgs. Merz jedenfalls rechnete am Donnerstag trotz allem damit, dass es auf dem Europäischen Rat Ende Oktober „aller Voraussicht nach dazu eine konkrete Entscheidung“ für die Nutzung der russischen Milliarden geben werde.

Die Uneinigkeit beim Thema Verteidigung wiederum zeigte sich schon allein daran, dass die Gipfelteilnehmer am Mittwoch ungefähr doppelt so lange wie geplant über das Thema sprachen. Gründe dafür nannten beteiligte Diplomaten: Weil die meisten von ihnen ziemlich viel dazu sagen wollten. Am Ende kamen die Staats- und Regierungschefs sogar in Terminnot, weil der König in Schloss Amalienborg mit dem Abendessen wartete. Auch am Donnerstag, beim anschließenden Treffen der 47 Staaten der Europäischen Politischen Gemeinschaft, ging es in erster Linie um die Sicherheit des Kontinents.

Was sich schon vorher abgezeichnet hatte, trat beim EU-Gipfel abermals zutage: Die großen Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Italien sehen die europäische Verteidigung in erster Linie als Sache der Nato oder der Nationalstaaten selbst. Anders gesagt: Kanzler Merz hat schon einen Verteidigungsminister in Berlin, und eine Rückbesinnung von Kommissionspräsidentin von der Leyen auf ihre eigene Zeit im Bendlerblock weckt in Berlin statt Begeisterung eher Sorge wegen Doppelstrukturen.

Von der Leyen betonte am Mittwochabend, man wolle „in enger Kooperation mit der Nato“ daran arbeiten, dass die unterschiedlichen Systeme und Fähigkeiten, die in Europa entstehen sollen, künftig nahtlos ineinander greifen. Aus ihrer Sicht gehört dazu weiterhin auch das Projekt eines „Drohnenwalls“, eines „Anti-Drohnen-Systems“ zum Schutz der EU-Grenzen. Die Begeisterung darüber aber nimmt stark ab, je weiter entfernt ein Land von der EU-Ostgrenze liegt. Das Bewusstsein, dass es an der Ostgrenze um eine gesamteuropäische Verantwortung geht, hatte sich jedenfalls bis zu diesem Gipfel nicht überall durchgesetzt.

Die dritte „informelle“ Erkenntnis aus Kopenhagen: Deutschlands Kanzler, der mit einer persönlichen Parallel-Tagesordnung angereist war, konnte sich damit nur bedingt durchsetzen. Merz hatte – neben der Ukraine-Finanzierung – vor allem über Europas Wettbewerbsfähigkeit sprechen wollen und über Reformen für die Industrie. Am Ende dominierte die Verteidigungspolitik die Gespräche. Von „Industrie“ jedenfalls sprach die Kommissionspräsidentin in ihrem Statement am Mittwochabend nur im Sinne von: „Verteidigungsindustrie“.

Aber in zwei Wochen ist schon der nächste Gipfel – dann ohne den Zusatz informell. Und mit Europas Wettbewerbsfähigkeit als einem der Großthemen.