Die ehemalige Grenze zwischen Ost und West ist heute ein Schutzgebiet. Wo einst Schüsse fielen, fühlen sich Biber, Wölfe und Wildpferde wohl. Was aus dem deutsch-deutschen Niemandsland geworden ist.
„Böser Ort“, so heißt der 90-Grad-Knick der Elbe zwischen dem nordwestlichsten Zipfel Brandenburgs und dem niedersächsischen Wendland. Binnenschiffer fürchten die tückischen Strömungen. Davon unbeeindruckt setzt die kleine Fähre „Westprignitz“ hier zigmal am Tag über. Schon seit 500 Jahren überqueren Menschen zwischen Pevestorf und Lenzen den Fluss.
Nur vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis kurz nach dem Mauerfall war der Fährbetrieb eingestellt: In der Flussmitte verlief die Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Damals patrouillierten bewaffnete Posten auf dem östlichen Deich. Direkt am Fähranleger steht noch ein Grenzwachturm aus Beton, heute ist er eine Aussichtsplattform.
Oben lässt Wolfgang Wetzel den Blick über den Fluss und die weite norddeutsche Landschaft schweifen. In seiner Kindheit hat er von der Westseite aus den mehr als drei Meter hohen Grenzzaun auf dem Deich am Ostufer gesehen. „Es sah immer aus wie eingesperrt“, erinnert er sich. „Der Zaun hat irgendwie Eindruck gemacht. Und die Türme waren ja alle besetzt. War schon immer ein bisschen komisch.“
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Uferbereich der Elbe bei Lütkenwisch zur Zeit der DDR und heute
Abgeholzter Grenzstreifen
Der massive Zaun ist längst verschwunden. Den Deich haben die Behörden verlegt, damit der Fluss bei Hochwasser mehr Platz hat. „Hier inmitten des UNESCO-Biosphärenreservats Flusslandschaft Elbe haben wir wirklich eine naturnahe Flusslandschaft, wie man sie kaum noch findet“, sagt Bettina Kühnast, die das Besucherzentrum des Bundes für Umwelt und Naturschutz in Lenzen leitet. „Für Mitteleuropa ist das wirklich einzigartig.“
Zu DDR-Zeiten holzten die Grenzer die Gegend weiträumig ab. Sie wollten freie Sicht auf den Todesstreifen, um auf sogenannte Republikflüchtlinge schießen zu können. In den vergangenen 35 Jahren haben Naturschützer wieder Bäume gepflanzt, auch ein Auwald wächst heran. Das alles kommt der Artenvielfalt und dem Tierbestand zugute. „Das Braunkehlchen findet man hier immer noch“, berichtet Bettina Kühnast. Dazu gekommen sind Biber, Wölfe und Wildpferde, die entlang der Elbe auf den Flächen der Deichrückverlegung leben.
„Grünes Band“ per App erkunden
Die Elbauen gehören wie die kompletten 1.400 Kilometer der einstigen innerdeutschen Grenze vom Süden Sachsens bis hoch zur Ostsee zum Schutzgebiet „Grünes Band“. 40 Jahre lang hatten nur Grenzsoldaten Zugang zum Todesstreifen, die Natur blieb relativ ungestört. Schon 1989 hatten deshalb Naturschützer die Idee, diese Biotope zu erhalten. Heute kann jede und jeder den Verlauf des „Eisernen Vorhangs“ per Rad oder zu Fuß erkunden.
„Das ‚Grüne Band‘ steht auf der einen Seite für die deutsche Teilung und das Leid, das die Menschen erfahren haben. Auf der anderen Seite aber auch dafür, dass 1989 die Teilung überwunden wurde und somit für Freiheit und Selbstbestimmung“, sagt Historikerin Franziska Kuschel, die den Arbeitsbereich Wissenschaft bei der Bundesstiftung Aufarbeitung leitet. Die Stiftung veröffentlicht am Tag der deutschen Einheit 2025 gemeinsam mit dem Verein BerlinHistory eine App mit umfangreichen Informationen zur Geschichte der Grenze und des heutigen „Grünen Bandes“.
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Aussichtsplattform zwischen Harpe und Darendorf zur Zeit der DDR und heute
Autor Thom Gallie hat dafür 900 Orte besucht, fotografiert und deren Historie recherchiert. „Es gibt viele, viele Grenztürme, die erhalten geblieben sind“, berichtet er. „Es gibt Grenzpfosten, Zaunpfähle – ganz viele materielle Dinge, die anzufassen und zu besuchen sind.“ Vieles davon ordnet die App mit kurzen Texten ein, erinnert an die Todesopfer des Grenzsystems und erklärt die Natur der Schutzgebiete. Fotos von damals und heute zeigen die Veränderungen. Interaktive Karten helfen bei der Orientierung. Eine Wander- und Radroute über die gesamte Länge des „Grünen Bandes“ ist ebenso verzeichnet wie viele lokale Rundwege.
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Strandabschnitt an der Ostsee zur Zeit der DDR und heute
Präsente Vergangenheit
Thom Gallie hat überrascht, wie präsent die Vergangenheit vor Ort noch immer ist: „Wenn man am ‚Grünen Band‘ mit Zeitzeugen spricht und die Menschen fragt: ‚Was hast du am 9. November 1989 gemacht?‘ kommt wie aus der Pistole geschossen eine Antwort. Das beschreibt jeder, der dort in der Region gelebt hat, als einen ganz wichtigen Zeitpunkt in seinem Leben.“
Auch besondere Schicksale sind älteren Anwohnern noch bewusst. Anfang der 1950er-Jahre etwa hatte die DDR-Staatssicherheit auf Befehl der Staatsführung viele Menschen vertrieben, weil sie zu dicht an der Grenze lebten. Danach ließen die Beamten viele der Häuser zerstören, manchmal sogar ganze Dörfer und Siedlungen. Diese geschleiften Orte sind in der App verzeichnet. Und auch kurze Biografien von 233 Menschen, die am „Eisernen Vorhang“ ums Leben kamen – von Grenzsoldaten erschossen oder ertrunken beim Versuch, schwimmend aus der DDR zu flüchten.
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Innerdeutsche Grenze bei Ullitz zur Zeit der DDR und heute
Kultur- und Naturerbe
In den dreieinhalb Jahrzehnten seit der Wiedervereinigung sind entlang der ehemaligen Grenze viele neue Biotope entstanden. Ob in der Görsdorfer Heide zwischen Sachsen und Bayern, in der renaturierten Werra-Aue zwischen Thüringen und Hessen oder eben an der Elbfähre zwischen Brandenburg und Niedersachsen – überall zieht das „Grüne Band“ Touristen wie Wolfgang Wetzel an: „Das ist eine tolle Natur hier. Und das hat mich einfach begeistert. Deswegen bin ich jetzt hier.“
Wegen dieser Verbindung aus Natur und Geschichte wollen Engagierte das „Grüne Band“ gleich doppelt als UNESCO-Welterbe anmelden: Als erster Ort weltweit soll er Weltkulturerbe und Weltnaturerbe gleichzeitig werden.