Iryna Drobowytsch denkt viel darüber nach, wie es sein wird, wenn der Krieg einmal vorbei ist. Wenn nicht mehr Nacht für Nacht russische Drohnen und Marschflugkörper Kurs auf die Ukraine nehmen. Wenn die Vertriebenen wieder zurückkehren können in ihre Heimat. Wenn die Menschen sich umschauen, um zu sehen, wie viel sie in diesem Krieg verloren haben – und wie viel andere.
Sie will, dass ihr Land vorbereitet ist auf, das, was danach kommt. Deswegen hat sie die Organisation The Day After gegründet, die genau dabei helfen will. Drobowytsch lächelt, als sie von ihrem Plan erzählt, aber ihre Botschaft ist ernst. Tausende Tote und Verletzte, ein traumatisiertes Land: „Der Tag danach wird lang“, sagt sie. „Es ist nicht zu früh, sich auf den Frieden vorzubereiten.“
Die junge Frau in Jeans und Wollpulli sagt das bei Tee und Keksen, in einem schmucklosen Büro in der Kiewer Innenstadt. Eingeladen hat Grünen-Chefin Franziska Brantner, die nach Kiew gefahren ist, um sich ein Bild von der aktuellen Situation vor Ort zu machen.
Die Botschaft der Ukrainerinnen: Es gibt uns noch, wir sind noch da
Draußen erinnern die kühlen Temperaturen daran, dass den Ukrainerinnen und Ukrainern ein langer, kalter Winter bevorsteht, wenn es Russland gelingen sollte, großflächig Strom- und Heizinfrastruktur zu zerstören. Drinnen wollen Drobowytsch und andere eine Botschaft senden aus der ukrainischen Zivilgesellschaft: Es gibt uns noch, wir sind noch da – auch im Krieg. Es sind fast nur Frauen, die an diesem Tag um den Tisch versammelt sind. Während die Männer an der Front oder außerhalb des Landes sind, halten sie die Menschen zusammen – und versuchen, das Land zu schaffen, das die Ukraine einmal sein soll, am Tag danach.
Es ist keine einfache Aufgabe. Erst im Sommer versuchte die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj, die Unabhängigkeit ukrainischer Anti-Korruptionsbehörden einzuschränken. Die Antwort der Zivilgesellschaft war schnell und deutlich: Tausende vor allem junge Menschen gingen dagegen auf die Straße – auch, weil sie fürchteten, dass der Schritt die Chancen des Landes auf einen EU-Beitritt verschlechtern könnte. So groß wurde der Druck, dass Selenskyj die Änderung rückgängig machte.
Die Proteste seien ein wichtiges Zeichen gewesen, sagt Oleksandra Matwijtschuk, Vorsitzende des Center for Civil Liberties, die ebenfalls am Tisch sitzt – ein Signal, dass die Menschen nicht nur wollen, dass die Ukraine als Land überlebt, sondern auch als Demokratie.
Matwijtschuk kämpft seit Langem für Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechte in der Ukraine. Für ihre Arbeit erhielt sie 2022 den Friedensnobelpreis. Die Logik des Krieges, sagt sie, läuft der Logik der Öffnung und der europäischen Integration zuwider: Die Regierung versuche, so viel wie möglich zu zentralisieren, um Dinge unter Kontrolle zu behalten. „Aber unsere Stärke ist Dezentralisierung, lokale Demokratie“, sagt die Juristin. „Das unterscheidet uns von Russland.“
„Manche betrachten uns als Verräter“
Der Kampf gegen Korruption, der Kampf für eine offenere, demokratische Ukraine dulde keinen Aufschub, sagt Matwijtschuk. „Wir haben nicht den Luxus, das auf nach dem Krieg zu verschieben.“ Denn wer weiß schon, wie lange der Krieg noch dauert.
Eines Tages wird er vorbei sein, sagt Iryna Drobowytsch. Und sie will, dass die Frauen des Landes dann bereit sind – für die Konflikte, die in diesem Moment aufbrechen werden. Schon jetzt, sagt sie, gebe es einen Teil der Bevölkerung, der das Gefühl habe, mehr von der Last des Krieges zu schultern als andere, zu viel mehr. Noch hält der Kampf gegen den gemeinsamen Feind Russland das Land zusammen. Doch wenn der vorbei ist, fürchtet sie, wird sich das ändern.
The Day After will deshalb Frauen ausbilden, ihnen in Workshops Techniken an die Hand geben, um den Streit, den Drobowytsch erwartet, moderieren zu können und die Menschen auffangen. Es gehe darum, Frauen mit unterschiedlichen Erfahrungen zusammenzubringen, ein Netzwerk zu knüpfen, erklärt sie.
Die junge Organisation blickt auf der Suche nach Vorbildern ins Ausland, in andere Länder, die schmerzhafte Konflikte erlebt haben: nach Ruanda etwa, wo nach dem Völkermord in den 1990er Jahren Frauen das Land wieder aufbauten und noch immer fast zwei Drittel der Parlamentsabgeordneten stellen. Nach Südafrika, wo die Wahrheits- und Versöhnungskommission versucht hat, die Wunden der Apartheid zu heilen.
Ihre Arbeit stoße nicht nur auf Zustimmung, sagt Drobowytsch. „Manche wollen nicht darüber sprechen“, sagt Drobowytsch. „Manche betrachten uns als Verräter.“ Dabei wolle sie ja gar keinen Frieden um jeden Preis, sondern nur vorbereitet sein, wenn irgendwann Frieden kommt. Die einzige ist sie damit offenbar nicht: Der jüngste Workshop, sagt sie, habe acht Mal so viele Anmeldungen gehabt wie Plätze.
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Während Iryna Drobowytsch an der Zukunft des Landes arbeitet, blickt Julija Sporysch auf die Gegenwart. Sporysch leitet die Nichtregierungsorganisation Girls, die sich eigentlich um Gleichstellung und den Schutz vor geschlechtsspezifischer und sexualisierter Gewalt kümmert. Doch mit dem Krieg ist ihr Aufgabengebiet immer größer geworden. Ihre Klientinnen seien Frauen, sagt Sporysch, also helfe sie da, wo diese es brauchen.
Frauen in der Ukraine: Eine ganze Generation wurde zurückgeworfen
Der Krieg hat das Leben von Frauen und Familien im gesamten Land auf den Kopf gestellt. Wenn Soldaten verletzt von der Front zurückkehren, seien es ihre Ehefrauen, Mütter, Schwestern und Töchter, die sich um sie kümmern würden, sagt Sporysch. Viele würden dafür ihre Jobs kündigen. In den Gebieten nahe der Front lernen viele Schülerinnen und Schüler immer noch einen Teil der Zeit online, weil die Schutzräume in den Schulen nicht groß genug sind, um alle gleichzeitig aufzunehmen. Weil die Kinder mehr Zeit zu Hause verbringen, müssen das häufig auch die Mütter.
Im Februar dieses Jahres stellte die Frauenorganisation der Vereinten Nationen fest, dass der Krieg eine „ganze Generation ukrainischer Frauen“ zurückgeworfen habe. 2023 waren 72,5 Prozent der Arbeitslosen in der Ukraine weiblich. Die Lohnlücke hat sich laut UN seit 2021 verdoppelt, auf 41,4 Prozent.
Zu den neuen Aufgaben, die Girls übernimmt, gehört deshalb auch die Unterstützung von Familien, die versehrte Soldaten pflegen, genauso wie Aufklärungsarbeit über bestimmte neue Berufsbilder. Minenräumerin etwa, sagt Sporysch. Ein gut bezahlter Job, einer, den es in der Ukraine noch lange geben wird. „Und viele Frauen wollen Minen räumen“, sagt sie, weil das ein Weg sei, ihr Land zu unterstützen, ohne an die Front zu gehen. Aber sie würden es nicht tun – unter anderem, weil das Stigma gegenüber Frauen, die wochenlang mit Männern im Feld seien, mächtig sei.
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
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„Langsam, langsam“ würde der Krieg Geschlechterrollen im Land verändern, glaubt Julija Sporysch. Auch, weil die Männer, die an der Front kämpfen, geflohen oder gefallen sind, im Alltag große Lücken reißen. „Die Leute haben gar keine andere Wahl, als mit Frauen zu arbeiten“, sagt sie und lacht. Sie hofft, dass das so bleibt. Auch am Tag danach.