Moskaus Drohnenangriffe und die Zurückhaltung der Amerikaner zwingen die Europäer und die Nato zu schwierigen Entscheidungen. Das macht die Ukraine umso mehr zum unersetzlichen Partner.
Die Nato-Ostflanke, hier ein Grenzpfahl zwischen Russland und Estland, ist so unruhig wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Carl Court / Getty
Vielleicht sitzt der Schock dieses Mal tief genug. Fast vier Jahre lang hat sich der Westen eingeredet, dass der Ukraine-Krieg auf die Ukraine beschränkt bleibe. Fast vier Jahre lang glaubte Europa, die Nato-Ostgrenze sei eine magische Barriere gegen Moskaus Aggression. Doch seit September zerstört ein Drohnenschwarm nach dem anderen diese Illusion: Der erste und grösste flog nach Polen. Seither provoziert Russland weiter – mit Kampfjets im baltischen Luftraum, Spionageschiffen und Flugobjekten über skandinavischen und deutschen Flughäfen.
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Verwirrung gehört zu Wladimir Putins Konzept. Er zündelt nur so stark, dass das Feuer wieder verschwunden ist, sobald die Welt genauer hinschaut. Hinter den Rauchschwaden bleibt vieles im Ungefähren. Das erlaubt den Russland-Apologeten, alle Warner als Hysteriker abzutun. Doch die Provokationen heizen die Spannungen an. Und rhetorisch hat der Kampf längst begonnen. «Die Nato und die EU haben meinem Land den Krieg erklärt», sagte Russlands Aussenminister Lawrow letzte Woche. Gleichzeitig befürwortet Donald Trump den Abschuss russischer Jets im Luftraum der Nato. Europas Politiker sehen die gefährlichste Konfrontation seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Gefahr kommt näher – und eine resolute Antwort ist ebenso riskant wie unvermeidlich.
Die USA verlangen mehr von Europa
Europäer, Amerikaner und die Nato reagieren zwar auf die neue russische Bedrohung. Es fehlt aber eine klare Strategie. Zwar nimmt der alte Kontinent langsam mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit. Das ist nicht wenig für eine Weltregion, die es sich jahrzehntelang unter dem Schutzschirm der USA bequem gemacht hat. Doch die Fortschritte auf dem langen Weg sind quälend langsam. Und die EU-Staaten stoppen an jeder Gabelung, um über den richtigen Weg zu diskutieren.
Dabei ist die Ausgangslage klar: Russland ist eine existenzielle Bedrohung für Europa, weil sein Appetit weit über die Grenzen der Ukraine hinausreicht. Gleichzeitig ziehen sich die USA schrittweise zurück. Donald Trumps Politik ist oft erratisch. Doch er hat stets klargemacht, dass die Ukraine nicht sein Krieg ist und Europa mehr Lasten schultern muss. Die EU darf für Kiew zwar amerikanische Waffen kaufen, und die Ukrainer erhalten Unterstützung aus den USA bei Aufklärung und Logistik. Milliardenschwere Hilfspakete aus Washington sind aber nicht absehbar.
In der Nato bleiben die USA involviert. Sie haben mindestens 75 000 Soldaten in Europa stationiert, mehr als ein Zehntel von ihnen allein in Polen. Ohne amerikanische Hightech-Waffen und Transportflugzeuge funktioniert die Nato nicht. Doch die Europäer leisten mehr als früher. Zu den höheren Verteidigungsausgaben kommt eine stärkere Präsenz an der Ostflanke. In acht Frontstaaten stehen heute internationale Schutzverbände der Nato, mehrheitlich unter europäischer Führung.
Die Amerikaner markieren gegenwärtig zwar in der Nordsee mit ihrem grössten Flugzeugträger Präsenz. An der Grenze zur Ukraine halten sie sich zurück. Bezeichnenderweise reagierten nur die Europäer auf Russlands Drohnenangriff – ausgerüstet mit amerikanischen Waffen: Niederländische F-35-Jets und deutsche Patriot-Systeme eilten Polen zu Hilfe. Auch die Operation Eastern Sentry zum Schutz der Nato-Ostgrenze findet ohne direkte Beteiligung der USA statt.
Die süsse Versuchung des Weiter-so-wie-bisher
Dass Europa plötzlich Militärmacht sein muss, verunsichert den Kontinent. Die EU und die Nato lavieren zwischen Entschlossenheit und der Angst vor dem eigenen Mut. Fast jeder Politiker ergänzt seine markige Kritik an Russland mit der Warnung, vorsichtig zu bleiben und keine Eskalation zuzulassen. Das ist inhaltlich korrekt. Aber es sendet ein widersprüchliches Signal und bestärkt Moskau in dem Glauben, der Westen sei schwach und gespalten.
Unbegründet ist diese Annahme nicht. Bringen die Europäer ohne die USA den Willen und die Stärke auf, um Russland die Stirn zu bieten? Militärisch sind sie Moskau auf dem Papier überlegen, wirtschaftlich sowieso. Das Hauptproblem ist politisch: Zwar steht die Bevölkerung mehrheitlich hinter den Aufrüstungsplänen. Doch Europa ist stark verschuldet, und Sicherheit kostet. Sobald ihre Bereiche betroffen sind, wehren sich die Lobbys – von den Pensionären über die Gewerkschaften bis zu Wirtschaftsverbänden. Die Erhöhung der Militärausgaben führt zu Verteilkämpfen, welche die gesellschaftliche Polarisierung verstärken können. Russland nutzt das aus und vertieft die Gräben mit Desinformationskampagnen.
Die Bedrohungslage führt paradoxerweise dazu, dass die politische Versuchung steigt, den Wählern ein Weiter-so-wie-bisher zu versprechen. Bereits heute profitieren Parteien am rechten und linken Rand von der Verunsicherung. Denn ein entschiedenes Vorgehen gegen Russland bedeutet, Risiken einzugehen: Europas Einheit und Wohlstand sind keine Selbstverständlichkeit mehr. Und der Krieg könnte ganz über die polnische Grenze schwappen. Diese Gefahr besteht aber ohnehin: Bereits heute rutscht Europa immer tiefer in die Konfrontation mit Moskau hinein. Die Bedrohung zu ignorieren, würde hingegen bedeuten, sich widerstandslos in die Wehrlosigkeit zu begeben. Und eine Finnlandisierung zu akzeptieren – dass Russland über Europas geopolitisches Schicksal bestimmt. Ein Rückzug in die Komfortzone ist unmöglich.
Die entscheidende Frage lautet deshalb nicht, ob Europa und die Nato ihre Fähigkeit zur Verteidigung und Abschreckung stärken, sondern wie sie dies klüger und effizienter tun. Die westliche Rüstungsindustrie ist stärker geworden, die Reaktion auf Provokationen entschlossener. Aber vor allem die EU verliert sich in bürokratischen Leerläufen, weil sie das Rad neu erfinden will.
So muss ihr Rüstungsprogramm gleichzeitig die einheimische Industrie fördern und die neu geplante «Drohnenwand» an der Ostflanke mit neuartigen Technologien vollen Schutz bieten. All diese Projekte kommen spät und dauern bis zur Umsetzung zu lange. «Dokumente entdecken keine Drohnen», so fasst der litauische Präsident Gitanas Nauseda die langwierigen Diskussionen treffend zusammen. Sie sind umso absurder, weil der Schlüssel für mehr Sicherheit buchstäblich vor der Haustüre liegt.
Ukrainische Lowtech gegen Russlands Billigdrohnen
Dort wehrt die Ukraine mit einem Hundertstel der europäischen Wirtschaftsleistung und einem Zehntel der Bevölkerung fast jede Nacht Hunderte von russischen Drohnen ab. Ihr digitales Überwachungssystem Delta verbindet elektronische und menschliche Quellen, um eindringende Geschosse im Luftraum zu entdecken. Auf die meisten Drohnen feuern mobile Einheiten mit Maschinengewehren und alte westliche Flakpanzer wie der «Gepard». Kampfjets mit millionenteuren Raketen einzusetzen, wie dies die Nato über Polen tat, können sich die Ukrainer nicht leisten. Sie bekämpfen Russlands Billigwaffen mit Lowtech. Das ist effizient und klug.
Der Westen muss die Kampferfahrung der verbündeten Osteuropäer deshalb viel stärker nutzen. Doch er ist zu überheblich. Erst im September, nach dreieinhalb Jahren Krieg, kam Polen endlich auf die Idee, ein Team in die Ukraine zu schicken, um Drohnenabwehr zu lernen. Gefolgt ist dem Beispiel bisher niemand. Dabei muss der Westen von den Ukrainern lernen, nicht umgekehrt. Sie sind seine beste Chance, die russische Gefahr abzuwehren. Und sie sind keine Bittsteller. Die Europäer brauchen ukrainisches Know-how dringender denn je.
Soll die Ostflanke aber wirklich gestärkt werden, müssen sich die Nato und Europa von zwei Fehlannahmen verabschieden: dass Russland Polens Ostgrenze als rote Linie akzeptiert und Sicherheit ein Nullsummenspiel ist. Warschau hat die Nato im September aufgefordert, eine Flugverbotszone über der Ukraine einzurichten. 2022 schien das noch ausgeschlossen. Nun sollte sie das Bündnis ernsthaft prüfen. Falls es keine Einigkeit gibt, kann eine Koalition der Willigen übernehmen.
Eine solche Zone müsste sich nicht auf die ganze Ukraine erstrecken. Das Mandat könnte auf den Abschuss von Raketen und Drohnen im Westen des Landes beschränkt werden, damit es durchsetzbar bleibt. Dort entstünde eine sichere Zone für Zivilisten und Rüstungsbetriebe. Europa schaffte strategische Tiefe für die Verteidigung des eigenen Gebiets und entlastete gleichzeitig die Ukrainer an der Front. Umstritten wäre ein solches Engagement zweifellos. Doch es ginge deutlich weniger weit als die Entsendung von Bodentruppen, die europäische Länder in Erwägung ziehen. Und das konkrete Schutzversprechen wäre ein Mittel, um Russland zurück an den Verhandlungstisch zu zwingen: Auf die Kompromissbereitschaft in Washington und das Zögern Europas hat Putin nämlich nur mit Eskalation reagiert.