Ein Besuch im Open Ground ist ein Ausflug für die Ohren. Der „schönste Sound der Welt“, schrieb der Londoner „Guardian“ kürzlich. Über einen Club in Wuppertal! Aber wenn man da ist, will man als Erstes fühlen, die Finger möchten an allen Wänden entlangstreichen, was ist das denn für ein weiches, aber doch raues Material, mit dessen Hellgrau alles beschlagen ist, auch die Decken? Härter als Filz, weicher als Tapete, es gibt nach, federt zurück.
Markus Riedel weiß es natürlich: Die Absorber aus Polyesterfasern hat der Berliner Akustiker Willsingh Wilson entwickelt. „Oft werden Akustiker erst am Ende der Planung dazu geholt und können dann nicht mehr viel ausrichten“, sagt Riedel. „Das wollten wir anders haben.“ Es ist Samstagabend, kurz vor zehn, gleich wird das Open Ground öffnen. Hinter den hellgrauen Wänden sind rot und orange leuchtende Strahler versteckt, die Räume sehen aus wie ein Kunstwerk, wie der Gang zum Maschinenraum der „Enterprise“. Riedel führt durch seinen futuristischen Tempel der Musik und lächelt die ganze Zeit, das mag daran liegen, dass er ein freundlicher Zeitgenosse ist, oder daran, dass er sich einen Jugendtraum erfüllt hat und nun auf einmal den aufregendsten Club der Welt leitet.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Sieben Jahre lang wurde der Weltkriegsbunker am Wuppertaler Hauptbahnhof umgebaut. Eine zwei Meter dicke Betonplatte mit diamantbesetzten Stahlseilen ausgesägt, um Hof und Eingangsbereich gestalten zu können. Lüftungen installiert. Feuerschutz eingebaut. Einen Raum haben sie beim Bau zufällig entdeckt, das ist heute der „Annex“, der kleinere Dancefloor. Seit knapp zwei Jahren ist der Club geöffnet. Jetzt reden in Berlin die DJs davon, wollen dort spielen, und ein indisches Reisemagazin schreibt: „der Lieblingsclub deines Lieblings-DJs“. Bisher war Daphne da, das ist das DJ-Alter-Ego des kanadischen Musikers Caribou, und der Brite Floating Points. Große Namen in der Musikszene. Aber kein Sven Väth, kein David Guetta, das hier ist nicht Ibiza. Der Berliner DJ und Künstler Arthur Rieger wählt für Riedel Acts aus, die als progressiv gelten. Ob Techno, House oder Drum and Bass ist sekundär.
„Bei uns wird das gesamte Hörspektrum sehr sauber abgebildet“
Der Clubabend hat begonnen, DJ Agnes Stark legt Techno auf. Im „Freifeld“, dem großen Dancefloor für gut 300 Personen, trifft der Bass hart aufs Brustbein. Aber die Ohren schmerzen nicht. Die Höhen, das Zischen der Hi-Hats, knisternde und klirrende Effekte der Musik, alles steht definiert im Raum wie scharf umrissene Wolken. Der Klang ist so erstaunlich, dass man gar nicht aufhören mag, durch den Raum zu wandeln, das kann doch nicht überall so gut klingen? Aber doch, tut es. Später kommt die Münchnerin Polygonia mit einem Liveact, Tasha aus London beschließt den Abend. Jede hat ihren eigenen Stil, es wird verspielt, hart, komplex, man kann hier jedes Soundexperiment besonders gut mitverfolgen.
„Wenn der Sound richtig klar ist, muss er gar nicht so laut sein. Bei einer schlechten Akustik neigen DJs dazu, immer weiter aufzudrehen, weil sie nicht genug hören, machen es aber damit nur noch schlimmer“, erklärt Mark Ernestus. Wir sitzen im Backstagebereich, er ist dazugekommen, hat anfänglich mit Riedel den Club erdacht und ist weiterhin eng involviert. „Anderswo wird der Sound schnell matschig, das Gehirn muss den Klang-Brei die ganze Zeit ordnen, das stresst. Bei uns wird das gesamte Hörspektrum sehr sauber abgebildet. Die Lautstärke bleibt unter 100 Dezibel, trotzdem fühlt man sich voll vom Sound umhüllt und getragen. Man kann länger tanzen und zuhören, und ist am nächsten Tag weniger kaputt.“
Der Eingang des Clubs Open Ground“ – ein alter Weltkriegsbunker, umgebautChris Parkinson
Man könnte es Wellness für Raver nennen. Wobei sie das Wort „Raver“ hier nicht so gern hören. „Wir sind für alle da“, sagt Riedel. „Alter, Herkunft, Musikwissen, das ist egal, man muss auch nicht cool sein, nur offen.“ Vielleicht haben sie mit dieser Haltung gerade ein neues Publikum erfunden. Im Lichthof trifft man in dieser Nacht: zwei Lehrerinnen in Blümchenkleidern, die für einen pädagogischen Kongress in der Stadt sind. Drei Briten, die einmal im Jahr auf Exkursion gehen, diesmal gezielt in diesen Club. Ein junges Paar aus Melbourne, das vor dem Kinderkriegen vier Wochen auf Weltreise ist, einzige Station in Deutschland: Wuppertal. Sie alle sind gekommen, um den Sound dieses Clubs zu hören. Etliche Düsseldorfer, die morgens mit dem ersten Zug wieder zurückfahren werden, sind sowieso da.
Als stünde man auf freiem Feld
„Freifeld“ heißt der große Floor nach dem Soundkonzept, das hier umgesetzt wurde: Der Raum hat überhaupt keinen eigenen Klang, der ist durch die Dämmung ganz eliminiert. Es klingt, als stünde man draußen auf freiem Feld. Oder auf einer Lichtung im Wald. An den meisten Wänden sind 40 Zentimeter dicke Metallkassetten angebracht, gefüllt mit Mineralwolle. Die Bassboxen stehen links und rechts im Raum, verschieden hoch für verschiedene Frequenzen. Und vier große Speaker auf Kopfhöhe in den Ecken. Es gibt keine tote Ecke auf dem Dancefloor und keine, an der die Ohren schmerzen. Geht man aus dem großen Dancefloor in den Gang, wird die Musik auf einmal viel leiser. Dann noch einmal um die Ecke, nur zehn Meter weiter, und sie ist fast weg. In den Sitznischen und im schönen, weitläufigen Foyer, wo sich die Ohren erholen und Menschen kennenlernen können, wird mit Wand- und Deckenlautsprechern die Musik vom großen Dancefloor eingespielt, sonst wäre es unheimlich still.
Der Lobby-Bereich im „Open Ground“: Hier ist die Musik gedämpft.Zillan Mouraki and Jonas Mokosch
Dimitri Hegemann hat in der Bauphase beraten, der Gründer des „Tresor“ in Berlin. Ernestus und Riedel wollten zuerst, dass wirklich gar nichts vom Klang ablenkt. Ursprünglich sollte der große Dancefloor nicht einmal eine Bar haben. Hegemann soll dann gesagt haben: Seid nicht bescheuert, mit irgendetwas müsst ihr Geld verdienen. Es gibt also nun doch eine Bar. Wenn man von der Tanzfläche fünf Schritte an die Seite tritt, in Richtung der Bar, wird es plötzlich leise, es ist kein Problem, sich zu unterhalten.
Es geht aber nicht nur um den Sound. Das Open Ground erzählt auch die Geschichte einer lebenslangen Männerfreundschaft. Ernestus und Riedel lernten sich vor fast 50 Jahren kennen, als Teenager in Wuppertal, auf dem Gymnasium im Bezirk Elberfeld-West. Sie teilen eine Liebe zur Musik. Zivildienst und Studium trennten sie, aber 1983 trafen sich beide wieder in Berlin. Ernestus gründete die Kneipe Kumpelnest, Riedel leitete sie – sie ist heute längst in anderer Hand, aber immer noch eine Institution in Berlin-Schöneberg. Dann eröffnete Ernestus den Plattenladen Hard Wax, der wegweisend für die House- und Technoszene wurde. Als die Stadt Wuppertal um 2016 einen Betreiber suchte, der den alten Weltkriegsbunker am Hauptbahnhof zu einem Kulturort machen sollte, dachte Riedel an einen Musikclub. Aber: „Es musste kompromisslos sein beim Sound.“ Nun sitzen die beiden Männer backstage nebeneinander, zwei Herren Mitte 60, immer noch voller Energie für die Musik.
„Hier sollen alle willkommen sein“
Eigentlich haben sie nicht nur den perfekten Sound erschaffen. Sie haben auch neu definiert, wie man einen modernen Club organisiert. „Wir haben eine andere Situation als in Berlin. Kommst du dort in zwei Clubs nicht rein, gehst du eben zum dritten“, erklärt Ernestus. „Hier sollen sich alle willkommen fühlen, unabhängig von Style oder sonst was.“ Und: „Selbst wenn man Leute abweist, weil sie zum Beispiel betrunken oder aggressiv sind, gibt es keinen Grund, respektlos oder unfreundlich zu sein.“
Menschen-Silhouette in rotem Licht: „Hier sind alle willkommen“, sagen die Betreiber des Open Ground.Zillan Mouraki and Jonas Mokosch
Vielleicht erlebt die Welt gerade einen Paradigmenwechsel in der Clubszene. Eigentlich fegt ein Clubsterben über Deutschland hinweg: In Leipzig musste das IFZ schließen, in Berlin das Watergate. Die Wilde Renate in Berlin ist bedroht, die Station Endlos in Halle gibt auf. Meist machen die Betreiber den Kapitalismus oder andere externe Faktoren dafür verantwortlich. Nie sich selbst. Aber womöglich sind die Technoclubs alter Schule einfach auch etwas überkommen. Wobei Kapital natürlich eine Rolle spielt: Das Open Ground konnte nur so gut werden, weil Millionen im Hintergrund stehen. Finanziert wird das Projekt von Riedels Bruder Thomas. Der stellt Funkgeräte her, digitale Kommunikationsgeräte, jeder Bundesliga-Schiedsrichter hat eins davon am Arm, beim Superbowl wurden sie verwendet und in der Metropolitan Opera in New York. Doch bei der Umsetzung hat er alles Markus überlassen, dem Sound- und Musikenthusiasten.
„Der ganze Club hat viele alkoholfreie Drinks“
„Natürlich klingt der Club phantastisch. Aber es geht um mehr. Das gesamte Erlebnis einer Clubnacht ist großartig“, sagt die Münchnerin Polygonia, bürgerlich Lindsey Wang. Sie war schon mit einem DJ-Set da, als Liveact, und hat vorher am Nachmittag einen Workshop in Musikproduktion gehalten. „Direkt hinter dem Pult gibt es einen Durchgang zu den Toiletten, einen Ruhebereich, sehr gutes vegetarisches Essen. Der ganze Club hat viele alkoholfreie Drinks, das ist mir als Nichttrinkerin wichtig. Man hört sich beim Spielen perfekt, sieht die Tanzenden gut. Alles passt. Dass etwas so sehr von meiner Perspektive als Künstlerin her gedacht ist, habe ich so noch nie erlebt.“
An diesem Samstagabend wird der Club nicht voll, 1000 Menschen dürfen rein, etwas weniger als halb so viel sind da. „Es gibt enormen Zuspruch und Besucher aus der ganzen Welt, aber Wuppertal und Umgebung sind einen Club wie uns noch nicht gewohnt“, sagt Riedel. „Diese Community muss noch mehr entstehen, das geht nicht von heute auf morgen.“ Doch er ist näher dran, als er denkt. „So etwas haben wir nicht“, erzählt im Raucherhof ein Programmierer aus Venezuela, der in Köln lebt. „Ich komme mit meinen Leuten jetzt immer öfter hierher.“ Seine Freundin nickt. „Das ist einzigartig.“ Dann verschwindet sie. Sie muss tanzen.