„Wie Sibirien, nur in Europa“
Was in Deutschland passiert, wenn der Golfstrom versiegt
Von Oliver Scheel
04.10.2025, 10:23 Uhr
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Die Atlantische Umwälzströmung wird laut Experten rapide schwächer. Ein Kollaps könnte Europa völlig verändern. Doch welche Folgen drohen ganz konkret? Zwei Klimaforscher schildern ntv.de, worauf wir uns unter Umständen einstellen müssen.
Die Welt heizt sich auf – schneller als die meisten Experten es befürchtet hatten. Doch ein Kontinent könnte ausgerechnet in Zeiten der Erderwärmung eine herbe Kälteschelle abkriegen: Europa. Denn es ist ziemlich offensichtlich, dass die immer wärmer werdende Welt die Atlantische Meridionale Umwälzzirkulation (AMOC), im Volksmund meist Golfstrom genannt, abwürgt. Und wenn das passiert, müssen wir uns warm anziehen. Die Klimaforscher Stefan Rahmstorf und Frederik Schenk zeichneten auf dem Extremwetterkongress jüngst in Hamburg ein gespenstisches Szenario für uns Europäer.
Was spielt sich da gerade ab im Atlantik? Vereinfacht gesagt ist es so, dass die enorme Gletscherschmelze vor allem vom grönländischen Eisschild riesige Mengen an Süßwasser ins Meer trägt, wodurch sich der Salzgehalt des Meerwassers verändert. Das Absinken des kalten Tiefenwassers wird gestört, die Zirkulation des Wassers gerät ins Stocken. Die AMOC sei jetzt schon schwächer als „jemals in den letzten 1000 Jahren“, sagte Rahmstorf. Sollte der Kipppunkt schon erreicht sein, dann wird sich die Strömung in den kommenden Jahrhunderten nicht mehr erholen können. Wir können diesen Prozess dann nicht mehr stoppen. „Das ist sehr bedenklich“, so der renommierte Klimaexperte vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK).
Aber warum ist das so bedenklich? Was passiert mit Europa ohne diese riesige Wärmepumpe im Atlantik? Während sich Südeuropa weiter aufheizt, wird es in Nord- und Mitteleuropa wesentlich kälter. „Wie das Wetter dann aussieht, kann heute niemand beantworten. Das ist so weit weg von dem, was wir kennen. Da können wir nur sagen, es werden ungeahnte Sachen passieren, die wir bislang nie erlebt haben“, so Rahmstorf.
„Stürme werden zunehmen“
„Man kann sich sicher sein, dass die Stürme zunehmen werden. Der CO2-Gehalt steigt ja weiter an, die Energie ist also da. Aber der Atlantik kühlt stark ab, dann kriegst du riesige Gradienten (Temperaturunterschiede in zwei Regionen, Anm. d. Red.) und das muss durch Stürme ausbalanciert werden. Das geht gar nicht anders“, erklärt Schenk. Sein Forschungsfeld ist tatsächlich die Vergangenheit. Er untersucht die Bedingungen, die bei anderen AMOC-Störungen oder Abrissen in Europa vorherrschten. Vor etwa 15.000 bis 11.000 Jahren gab es mehrere Aufs und Abs bei der AMOC.
Damals waren die Winter extrem kalt und extrem lang. Die Vegetationsphasen waren sehr kurz, die Sommer dabei heiß. „In Europa gab es kaum Wälder. Die Sommer waren heiß und trocken, die Winter kalt“, so Schenk. Das Klima wäre in etwa so wie das von Sibirien. „Nur eben jetzt mitten in Europa“, sagt er. „Die Veränderungen wären massiv. Das würde praktisch alles ändern, Landwirtschaft können wir vergessen, Forstwirtschaft, die in nordischen Ländern ja sehr wichtig ist, können wir weitgehend vergessen. In Zentraleuropa, also in Deutschland und dem Mittelmeerraum kommt dann diese akute Trockenheit hinzu“, beschreibt Schenk das Szenario, das uns droht.
Hohe Wahrscheinlichkeit für AMOC-Kollaps
Und diese lebensferne Welt, die so gar nichts mit unserem jetzigen angenehmen Klima zu tun hat, könnte sich innerhalb von nur 100 Jahren einstellen. Den Kipppunkt dazu haben wir vielleicht schon überschritten. „Dann dauert es noch 50 bis 100 Jahre, bis die AMOC völlig versiegt ist“, erläutert Rahmstorf. Seine Modellierungen zeichnen ein dramatisches Bild: Wenn wir weiterhin so viel Treibhausgas in die Atmosphäre entlassen, dann liegt die Wahrscheinlichkeit für einen AMOC-Kollaps bei 70 Prozent.
Wie aber passt das alles zusammen? Schließlich sehen wir ja momentan wenig von strenger werdenden Wintern. „Im Moment merken wir die Auswirkungen eher in Form von besonders heißen Sommern. Das Alfred-Wegener-Institut zeigt, dass die Hitzesommer mit besonders kalten Temperaturen draußen im Atlantik korrelieren. Hitzewellen in Europa haben stärker zugenommen als in anderen Regionen und vergleichbaren Breitengraden. Wir können also sagen, wir spüren bereits die Folgen, nur nicht wie in ‚The Day After Tomorrow‘, wo es ganz kalt wird, sondern eher so, dass Europa zu einem Hotspot für Hitzewellen geworden ist“, erklärt Rahmstorf in unserem Gespräch.
Das sieht Schenk, der in Stockholm forscht, ähnlich: „Während der Hitzewellen gab es immer wieder den Zusammenhang zwischen den kalten Meerestemperaturen im Atlantik und den Hitzewellen. Wenn dieser Cold Blob sich ausdehnt oder öfter kommt, gibt es mehr Hitzewellen im Sommer.“
Auch bloße Abschwächung hatte massive Folgen
Dabei spielt es für Schenk gar nicht mal eine so große Rolle, ob die AMOC komplett kollabiert oder sich nur abschwächt: „Auch kleinere Störungen hatten in der Vergangenheit massive Auswirkungen.“ Wälder verschwanden, es kam zu einem Bevölkerungsrückgang.
Rahmstorf sieht die Folgen für die Zukunft Europas äußerst kritisch. „Es ist eine existenzielle Frage. Und es wird große Flüchtlingsbewegungen geben, vielleicht auch in Europa“, blickt er voraus. „Dazu wird es in Südeuropa ja weiter heißer. Die Menschen hoffen, dass das nicht so kommt, aber wenn es kommt, ist es zu spät. Ich denke mit Grausen an die Zukunft meiner Kinder“, so der Ozeanforscher.
Aber was macht denn angesichts solcher Szenarien noch Hoffnung? „Wir haben die Lösungsmöglichkeiten, wir haben die Technologien“, sagt Rahmstorf. „Wir müssen nur verhindern, dass die weiter von Interessengruppen ausgebremst werden. Es ist jetzt nicht die Zeit zum Abwarten, wir müssen voran mit der Energie- und der Verkehrswende“, fordert der Professor. Und wenn wir es nicht schaffen? Dann wird es schwierig. Schenk formulierte es so: „Es gibt dann keinen Grund mehr hier zu leben. Und ich wüsste nicht, wo ich hin sollte.“