Vor 35 Jahren wurde aus zwei deutschen Staaten wieder einer – doch die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Ost und West sind bis heute spürbar. Der Tag der Deutschen Einheit erinnert nicht nur an die historische Überwindung der Mauer, sondern auch an die anhaltende Herausforderung, gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zu schaffen.

Zwischen Ost und West lagen damals Welten – marode Infrastruktur, veraltete Produktionsanlagen, eine ostdeutsche Wirtschaft, die nur auf ein Drittel des Westniveaus kam. Die Wiedervereinigung war mehr als Politik: Sie verlangte einen historischen Kraftakt von Wirtschaft und Gesellschaft.

35 Jahre später ist klar: Diese Anstrengung hat sich gelohnt. Ostdeutschland hat einen beeindruckenden Aufholprozess durchlaufen. Städte wie Leipzig, Dresden, Jena oder Chemnitz stehen heute für wirtschaftliche Dynamik, Forschung, Technologie und Kultur. Zahlreiche Regionen haben sich modernisiert, neue Industrien sind entstanden, die Lebensverhältnisse haben sich vielerorts deutlich angenähert. Ostdeutschland hat ein eigenes Profil und neue Stärken entwickelt – etwa in der Energiebranche, der Halbleiterproduktion oder der Gesundheitswirtschaft. Die Deutsche Einheit war, bei allen Schwierigkeiten, politisch, sozial und ökonomisch ein Erfolg.

Weiterhin Unterschiede zwischen Ost und West

Doch dieser Erfolg erzählt nicht die ganze Geschichte. Ein Blick in den Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung 2024 zeigt, dass die Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland längst nicht abgeschlossen ist. Viele Regionen – besonders im Osten – kämpfen mit einer schwindenden Daseinsvorsorge. Gemeint ist die grundlegende öffentliche Infrastruktur: von Schulen und Arztpraxen über Busverbindungen und kulturelle Einrichtungen bis hin zur digitalen Versorgung. Während wirtschaftsstarke Städte wachsen, verlieren ländliche Gebiete an Substanz. Für viele Menschen entsteht der Eindruck, der Staat ziehe sich aus der Fläche zurück – und vielerorts trifft das zu.

Das Grundgesetz verpflichtet Bund und Länder, gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen. Doch die tatsächlichen Unterschiede bei Finanzausstattung und öffentlicher Daseinsvorsorge bleiben groß. Ostdeutsche Länder liegen bei der Steuerkraft weiterhin unter dem Bundesschnitt. Selbst nach dem Finanzausgleich von reichen zu finanzschwachen Ländern bleiben Lücken, die durch zusätzliche Bundeszuweisungen nur teilweise geschlossen werden. Der jüngste DIW-Wochenbericht macht deutlich, dass die finanzielle Ungleichheit in den kommenden Jahren eher zunehmen als abnehmen dürfte. So verfestigen sich die Unterschiede – nicht mehr entlang der alten Ost-West-Grenze, sondern immer stärker zwischen wirtschaftsstarken Metropolregionen und strukturschwachen ländlichen Räumen.

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Die größte Herausforderung für Ostdeutschland liegt heute weniger in der Wirtschaftsstruktur, sondern im demografischen Wandel. Seit der Wiedervereinigung haben die ostdeutschen Länder rund zwei Millionen Menschen verloren – vor allem junge, gut ausgebildete und motivierte Menschen. Diese Abwanderung prägt die Region bis heute: Die Bevölkerung ist älter, die Zahl der Erwerbspersonen sinkt schneller als im Westen. Damit geraten wirtschaftliche Dynamik, Innovationskraft und die Finanzierung öffentlicher Leistungen zusätzlich unter Druck.

Diese Entwicklung hat auch politische Konsequenzen. Studien des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zeigen, wie stark demografische Veränderungen und strukturelle Missstände den Erfolg der AfD bei Wahlen begünstigen – insbesondere unter jungen Menschen und in wirtschaftlich schwachen ostdeutschen Regionen. Wo Arbeits- und Zukunftsperspektiven fehlen, wo öffentliche Strukturen erodieren, wächst das Misstrauen gegenüber Politik und Institutionen. Der Aufstieg der AfD ist auch ein Symptom dieser demografischen und strukturellen Schieflage.

Daseinsvorsorge ist Standortpolitik

Die Politik muss Daseinsvorsorge endlich als Kern moderner Regionalpolitik begreifen. Es geht nicht nur um kurzfristige Förderprogramme, sondern um verlässliche, langfristige Investitionen in die öffentliche Infrastruktur. Besonders in Ostdeutschland braucht es mehr Investitionen in Gesundheit, Mobilität und Digitalisierung. Denn funktionierende Daseinsvorsorge ist keine nostalgische Idee eines fürsorglichen Staates – sie ist eine Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum und gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Dazu gehört auch eine bessere finanzielle Ausstattung der ostdeutschen Länder und vor allem der Kommunen. Viele Städte und Gemeinden im Osten verfügen über schwache eigene Einnahmen, stehen aber vor wachsenden Aufgaben. Das bestehende Finanzausgleichssystem reicht nicht aus, um diese strukturellen Unterschiede dauerhaft zu kompensieren. Wenn gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland mehr als ein Verfassungsgebot auf dem Papier sein sollen, muss die Finanzarchitektur entsprechend weiterentwickelt werden.

Die Wiedervereinigung war ein historischer Erfolg – aber Einheit ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Die vergangenen 35 Jahre haben gezeigt, dass politische und wirtschaftliche Anstrengungen enorme Fortschritte ermöglichen können. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob Deutschland den Mut aufbringt, diesen Prozess entschlossen fortzusetzen.

Das heißt: regionale Ungleichheiten nicht einfach hinnehmen, sondern aktiv angehen. Den ländlichen Raum nicht abschreiben, sondern als Zukunftsraum ernst zu nehmen. Und es bedeutet, Daseinsvorsorge als Standortpolitik zu verstehen: Wer Schulen, Krankenhäuser, Verkehr und digitale Netze stärkt, schafft Perspektiven – und stärkt Demokratie und Zusammenhalt.

Deutschland hat gezeigt, dass es die Wiedervereinigung meistern kann. Jetzt muss es beweisen, dass es auch den Zusammenhalt seiner Regionen und seiner Gesellschaft erneuern kann.