Europa steht geopolitisch bedingt an einem strategischen Scheideweg. Die alten Paradigmen von Sicherheit, Abhängigkeit und Stabilität geraten ins Wanken– ausgelöst durch Russlands aggressives Vorgehen, durch die schwindende Bereitschaft der USA, dauerhaft als „Weltpolizei“ zu fungieren, und durch die zunehmende multipolare Konkurrenz in globalen Machtfragen. Schafft es der Kontinent, sicherheitspolitisch unabhängig zu werden – oder bleibt er abhängig von externen Mächten?

Am Samstag (4. Oktober 2025) stand dazu Militärexperte Franz-Stefan Gady in einem exklusiven Live-Gespräch Außenpolitik-Chefin Maria Schaunitzer Rede und Antwort. Seine erste Reportage kam einst aus Afghanistan, später arbeitete er in den USA. Nach 17 Jahren dort lebt er nun wieder in Österreich – mit einem wachen Blick auf die transatlantischen Beziehungen.

„Trump hat nur eine Tür aufgestoßen, die längst offen war“, sagt Gady. Die Umwälzungen in den USA, die Polarisierung und die Bewegung „Make America Great Again“ (MAGA) seien keine Ursache, sondern das Symptom einer Entwicklung, die mit den Kriegen in Afghanistan und im Irak begann. Diese hätten das Vertrauen in Staat, Politik und Armee erschüttert. „Das System war abbruchreif, lange bevor Trump kam.“

Amerikas Demokratie ist intakt

Die amerikanische Demokratie sei trotz allem intakt, betont Gady. „Solange Gerichte funktionieren und Gewaltenteilung besteht, ist die USA keine Autokratie.“ Doch die Selbstzensur wachse – deutlich erlebbar bei Journalisten, Beamten und selbst im Nationalen Sicherheitsrat. Vieles hänge nun von den Midterms 2026 ab. „Es ist keine Krise der Demokratie, sondern der politischen Parteien.“

Für Europa zieht Gady klare Lehren: „Trump hat uns gezeigt, dass wir sicherheitspolitisch auf eigenen Beinen stehen müssen. Europa ist allein zu Hause.“ Nicht fehlendes Geld oder militärische Fähigkeiten seien das Problem, sondern das Denken in Abhängigkeiten. Noch immer verlasse man sich zu stark auf Washington. „Wir müssen unsere Interessen definieren und militärische Stärke wieder als Teil der Außenpolitik begreifen – zur Abschreckung, nicht zur Aggression.“

Europas Sicherheit ist fragil

Der Krieg in der Ukraine und die wiederkehrenden Drohnen- und Sabotageaktionen in Europa zeigten, wie Moskau versuche, den Westen zu destabilisieren. Russland verfolge seit Jahrhunderten dieselben Ziele: die Schwächung der EU und die Zerschlagung der NATO. Europa müsse sich darauf einstellen, dass dies das „neue Normal“ sei – eine permanente Phase hybrider Bedrohungen, die mit militärischen, digitalen und psychologischen Mitteln geführt werden.

„Wir befinden uns in einer Vorbereitungsphase auf einen potenziellen militärischen Konflikt“, sagt Gady, „das bedeutet nicht, dass er unausweichlich ist – aber wir müssen die richtigen Schritte setzen, um abzuschrecken.“ Dazu brauche es Investitionen in Verteidigungsfähigkeit, Resilienz gegen Desinformation und politische Klarheit über Europas eigene Interessen.

Gady warnt davor, die Lage zu dramatisieren: „Aussagen wie ‚die gefährlichste Situation seit dem Zweiten Weltkrieg‘ stumpfen die Menschen nur ab.“ Dennoch befinde sich Europa in einem „kalten Frieden“ – einer Vorbereitungsphase auf einen möglichen Konflikt. „Wir leben in einer Welt, in der militärische Stärke wieder zählt.“

„Die Neutralität nützt uns nur, bis der erste Schuss fällt“

Auch Österreich müsse sich ehrlich vor Augen führen. „Die Neutralität nützt uns nur, bis der erste Schuss fällt“, sagt Gady. „Wir sind keine Insel. Wenn über unser Territorium NATO-Truppen von West nach Ost verlegt würden, wären wir automatisch Teil des Konflikts.“ Und eines der ersten Ziele. Er plädiert für eine neue Definition der Neutralität, ein stärkeres Bundesheer und offene gesellschaftliche Debatten. „Wir profitieren von der EU, müssen aber auch solidarisch handeln.“

Gefragt nach der Entwicklung in den nächsten Monaten, ist Gady überzeugt: „Ein russischer Durchbruch in der Ukraine sei derzeit unwahrscheinlich, meint Gady, doch der Krieg bleibe unberechenbar. „Man kann oft nur zwei, drei Wochen vorausschauen – das ist die Natur des Krieges.“ Die Ukraine zeige enorme Widerstandskraft. „Aber klar ist: Europa muss lernen, seine Sicherheit selbst in die Hand zu nehmen.“ Klar sei auch: „Wenn Europa diese Herausforderung annimmt, werden wir vielleicht eines Tages sagen: Das war der Moment, in dem Europa erwachsen wurde“, schließt Gady. Eine nüchterne, aber klare Botschaft: Eigenständigkeit ist die Voraussetzung für Sicherheit – und die Chance auf eine stabile Zukunft des Kontinents.