4. Oktober 2025. Im Südwesten der Republik feiern sie an diesem Abend 35 Jahre deutsche Einheit als Festtag Europas. Hoch oben im Norden sieht Frank Castorf zur gleichen Zeit ziemlich schwarz für den Kontinent. Sein Hamburger „Hamlet“ ist die düstere Zustandsbeschreibung einer Gesellschaft, die sich mit kurzen Unterbrechungen von einer Katastrophensaison zur nächsten hangelt. Ein überbordendes Fest des Theaters in unsicheren Zeiten.

Ein Berg dunkler Schaumstoffsteine bedeckt den größten Teil der Bühne. Wie ein kantiges Bällebad, in das das Ensemble in seinen umwerfend glitzernden Vaudeville-Revuekostümen immer wieder eintaucht, sich reinwirft, umkippt. Im Hintergrund links ein Strommast mit Überwachungskameras, rechts ein weiterer Pfeiler. Dazwischen die Rückseite eines schon einigermaßen ramponierten Schriftzugs: EUROPE. Als würden wir uns in einem Themenpark befinden, der seine besten Zeiten hinter sich hat.

Heiner Müllers Gedankenströme

Natürlich. Schon Jonathan Kempf, der Hamlet-(Nicht-)Darsteller im Vorspiel dieser Inszenierung, hat nur noch „die Ruinen von Europa“ im Rücken. Bevor’s losgeht mit Shakespeare, setzt Regisseur Castorf erstmal ausgiebig mit Heiner Müller den Ton des Abends. Dessen „Hamletmaschine“ vom Ende der 1970er Jahre ist eine Textcollage, die die Abgründe des weithin bekannten Dänenprinzen mit den politischen Kämpfen des 20. Jahrhunderts in Beziehung setzt. Und es ist beileibe nicht der einzige Gedankenstrom Heiner Müllers, der an diesem Abend zur Aufführung kommt.

Wie immer biegt Castorf also auch in dieser Inszenierung in schöner Unregelmäßigkeit thematisch mal hierhin und mal dorthin ab, zum französischen Theater-Berserker Antonin Artaud mit seinen (vor-)zivilisatorischen Grausamkeiten etwa und direkt in die Hölle mit Dantes Göttlicher Komödie. Die Assoziationskurven landen aber zielgenau immer wieder da, wo sie den „Hamlet“ irgendwann mal verlassen haben. Auch wenn es manchmal etwas dauert.

 Hamlet 10 c Just LoomisTragisches Paar im Atomschutzbunker: Paul Behren als Hamlet und Lilith Stangenberg als Ophelia © Just Loomis

Dabei gibt es da ja doch auch so einiges zu zeigen – und das macht Castorf mit großer Liebe zum Detail. Bei ihm ist Shakespeares Hamlet von Beginn an auf Krawall gebürstet. „Ich bin froh, dass ich kein Dicker bin, denn dick sein ist ’ne Quälerei“, singt der athletische Paul Behren in der Titelrolle (mit Marius Müller-Westernhagen) passiv-aggressiv seinen körperlich durchaus umfangreichen Onkel Claudius an, der gerade Hamlets Mutter geheiratet hat. Josef Ostendorf gibt diesen politisch skrupellosen Brudermörder als nöligen, schmierig-freundlichen Egozentriker vom Typ Donald Trump. Hamlets unverschämten Gesangsangriff tänzelt er trippelnd weg, als wäre nichts geschehen. In der Popwelt des Kapitalismus ist sowieso alles irgendwie relativ. Was zählt, ist einzig der Kampf um „Ressourcen im Fjord, von denen wir träumen, wir Dänen“.

Der liebende Denker Hamlet ist in dieser Welt schon längst zugrunde gegangen. Spätestens mit dem Gedanken an Rache für den Mord an seinem Vater ist er Teil der Gewaltspirale geworden, von deren zerstörerischer Kraft europäische Mythen seit Jahrhunderten erzählen und denen schon Schauspielhaus-Intendantin Karin Beier in ihrem preisgekrönten Antiken-Marathon ANTHROPOLIS nachspürt. Castorf schließt mit „Hamlet“ auf seine Art an diese theatrale Vermessung eines Kontinents in Aufruhr an – und schlägt mit Heiner Müllers Hilfe Bögen von der Antike bis nach Auschwitz, vom Kommunismus in den Kapitalismus, vom Ersten Weltkrieg bis zur Angst vor einem dritten.

Alle Stasi – außer Mutti

Konsequenterweise hat Aleksandar Denić gleich auch noch einen kleinen Atombunker auf die wirkmächtig gestaltete Bühne gebaut. Auf den ersten Blick erkennbar ist zunächst nur ein runder Betonklotz mit Sichtscharten, die auch als Klettergerüst dienen. Unter der Bühnenoberfläche erschließen Live-Videoprojektionen einen solide ausgestatteten, weiß gekachelten Raum mit Pritschen, Tisch und Abhörgerätschaften für die Totalüberwachung dieses faulen Staates Dänemark.

Wie soll an diesem Ort des Misstrauens so etwas wie Liebe möglich sein? Hamlet und Ophelia kommen sich im Bunkerschutzraum näher, er füttert sie mit klarer Gemüsesuppe, legt sich auf sie, aber aus Andeutungen von Zärtlichkeit werden schnell rohe Gier, verzweifelte, harte Berührungen auf der Suche nach Sex oder Halt oder beidem – und nichts davon ist diesem tragischen Paar gegönnt.

Vor einer historischen Erklärtafel über das vermeintlich richtige Verhalten bei einem Atomunfall sinniert Hamlet über „Sein oder Nichtsein“, während Ophelia ihn von hinten umschlingt. Die wunderbar kraftvolle Lilith Stangenberg macht aus dieser klassischen Opferrolle eine starke Frau in hautenger gelber Gummihose, Glitzer-BH und Rüschen-Halskragen. Rasend reißt sie zusammen mit Hamlet ganze Schubladen eines Karteikartenregisters aus deren Verankerung und kippt den Inhalt auf den Boden. „Alle Stasi – außer Mutti“, kommentiert Paul Behren.

Hamlet 12 c Just LoomisKraftzentrum eines spannungsgeladenen Ensembles: Paul Behren mit Linn Reusse und Alberta von Poelnitz vor den Müller’schen „Ruinen von Europa“ © Just Loomis

In einem spannungsgeladenen Ensemble ist Behren das Kraftzentrum der Inszenierung. Ein faszinierender Körperspieler, bei dem das notorische Zucken der linken Hand manchmal mehr sagt als tausend Worte. Mit oft gepresstem Drang in der Stimme schmeißt er sich in Hamlets verlorene Seele – und kann gleichzeitig jeden Moment aus der Rolle heraustreten und ein ironisches Augenzwinkern Richtung Publikum werfen: „Sagte nicht der große Kanzler, wenn ich Visionen hab‘, soll ich zum Nervenarzt gehen?“ Mit einem Satz: Paul Behren als Hamlet ist ein Ereignis!

Wie die ganze Inszenierung. Natürlich übertreibt es Castorf. Sonst wäre er ja nicht Castorf. (Auch wenn wir es hier mit einem seiner weniger wilden Abende zu tun haben.) Natürlich sind die sechs Stunden und 15 Minuten, die die Premiere gedauert hat (regulär sollten’s glatte sechs sein) ein ganz schön anstrengender Brocken. Natürlich spielt Castorf dabei mit der Erschöpfung der Spieler*innen und des Publikums. Und natürlich braucht man als Regisseur ganz schön viel Chuzpe, um bei so einer Gesamtlänge auch noch den vierten und fünften Akt seiner Stoffvorlage mehr oder weniger komplett ungespielt wegzulassen.

Lustvoll und lustig

All das ist aber vor allem: konsequent und schlüssig. Nachdem sich Hamlet einmal der Gewalt ergeben und selbst getötet hat, passiert – trotz Shakespeares Händchen für Action-Szenen – im Grunde nichts mehr, was man nicht schon tausendfach gehört oder gesehen hätte. Mord und Totschlag made in Europe. „Der Schrecken, der von Shakespeares Spiegelungen ausgeht, ist die Wiederkehr des Gleichen“, lässt Castorf zum Ende hin Heiner Müller zitieren.

Der Wahnsinn hat also auch an diesem Abend Methode. Und er hat Kraft. Was bei aller pessimistischen Weltsicht bleibt, ist hier der unbedingte Glaube ans Theater als Ort, an dem man trotz der Tragik des Geschehens auch mal über sich selbst lachen kann. Ein kluger, lustvoller, nachdenklicher, intensiver und stellenweise auch ganz schön lustiger Trip in den Grusel-Themenpark Europa.

Hamlet
von William Shakespeare, aus dem Englischen von Heiner Müller (Mitarbeit: Matthias Langhoff), unter Verwendung von Heiner Müllers „Hamletmaschine“
Regie: Frank Castorf, Bühne: Aleksandar Denić, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Licht: Lothar Baumgarte, Live-Kamera: Andreas Deinert (Videodesign), Severin Renke, Live-Schnitt: Jens Crull, Maryvonne Riedelsheimer, Sounddesign: William Minke, Live-Tonangler: Michael Gentner, Jochen Laube, Live-Cueing: Rebecca Dantas, künstlerische Produktionsleitung: Sebastian Klink, Dramaturgie: Ralf Fiedler.
Mit: Paul Behren, Daniel Hoevels, Jonathan Kempf, Matti Krause, Josef Ostendorf, Alberta von Poelnitz, Olaf Rausch, Linn Reusse, Angelika Richter, Lilith Stangenberg.
Dauer: 6 Stunden 15 Minuten, eine Pause
Premiere am 3. Oktober 2025

www.schauspielhaus.de

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