Es sollte die Rede sein, die ihn rettet. In dieser Woche sprach Großbritanniens Premierminister Keir Starmer auf dem Labour-Parteitag. In den Wochen zuvor musste er viel Kritik einstecken, die größte Demonstration von Rechten in der Geschichte seines Landes erleben und den Rücktritt seiner Stellvertreterin verkraften.
In dieser Woche also kämpfte er vor den Delegierten in der Messehalle von Liverpool wortreich um sein Amt. „Eine Erneuerung des Landes“ kündigte er an.
Statt Jubel aber gibt es nur verhaltenen Beifall
An einer Stelle in seiner Rede beschrieb Keir Starmer, wie sich das Land angefühlt habe, am Abend des Halbfinals der Fußball-Europameisterschaft 1996. Und wie es sich jetzt möglichst wieder anfühlen sollte.
„Etwas hat sich damals geregt in England. Ein England, das unseren Großeltern und unserer Geschichte gehörte, aber auch unseren Kindern und der Zukunft.“ Alle hätten damals mit einer Stimme gesungen, sich hinter einer Flagge versammelt, rief Starmer.
Statt Jubel aber gab es in der Halle nur verhaltenen Beifall. Denn alle wussten: Das Halbfinale 1996 ging verloren, ausgerechnet gegen Deutschland. Das musste auch Starmer auf der Bühne eingestehen.
70
Prozent der Briten bewerten die Arbeit Starmers einer Umfrage zufolge negativ.
Es ist eine Szene, die beispielhaft für die bisherige Amtszeit Starmers stehen könnte: Der Wille ist da, die Umsetzung kommt bei den Menschen nicht richtig an.
„Der Regierung scheint es an verbindenden Ideen oder Zielen zu fehlen“, sagt Victoria Honeyman, Professorin für britische Politik an der Universität von Leeds, dem Tagesspiegel. „Starmer selbst schafft es nicht, die Öffentlichkeit zu inspirieren.“
Victoria Honeyman ist Professorin für britische Politik an der University of Leeds.
Dabei könnte er eigentlich selbstbewusst sein. Seine Mehrheit im Parlament ist komfortabel, die nächsten landesweiten Wahlen sind erst 2029. Und doch scheint seine Position schwach.
Umfragen zufolge bewerten 70 Prozent der Briten seine Arbeit als schlecht, er persönlich gilt als der unbeliebteste Regierungschef, seit Margaret Thatcher, als solche Befragungen erstmals durchgeführt wurden.
Was ist das Problem?
Starmer wird gleich von mehreren Seiten unter Druck gesetzt, ja geradezu gehetzt. Nigel Farage und seine rechtspopulistische Partei Reform UK machen seit Monaten Stimmung gegen die Asylpolitik.
Aus ihrer Sicht herrscht Chaos im Land. Farage spricht immer wieder von einer „Invasion“ durch Migranten, schürt Ängste und wirft Starmer vor, planlos zu sein.
Gehetzt vom Rechtspopulisten, hat Starmer seine Asylpolitik verschärft. Bislang allerdings noch ohne den gewünschten Erfolg.
Nigel Farage und seine Partei Reform UK liegen in Umfragen derzeit weit vorne.
© AFP/CARLOS JASSO
Zuletzt brachten auch ultrarechte Gruppen rund 100.000 Menschen bei einer Demo in London auf die Straße. Auch dort ging es gegen Migranten, Muslime und die Regierung.
Tatsächlich hat die irreguläre Migration seit Jahresbeginn zugenommen, auch wenn die absoluten Zahlen im Europavergleich noch gering sind. Doch der Staat kann schon jetzt vielerorts Aufgaben kaum noch erfüllen, jeder weitere Bürger wird von vielen als Belastung wahrgenommen.
Das öffentliche Gesundheitssystem beispielsweise steht vor dem Kollaps. Es fehlt an Geld, Fachkräften und Reformen. Die Zweifel in die Leistungsfähigkeit des Staates sind enorm – und nützen Farage.
„Auf lange Sicht ist Nigel Farage eine existenzielle Bedrohung für Starmer und die Labour Party“, sagt Politologe Christopher Massey von der Teesside University in Middlesbrough, dem Tagesspiegel.
Christopher Massey lehrt Politik und Geschichte an der Teesside University im nordenglischen Middlesbrough. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte der Labour Party.
Victoria Honeyman ist etwas zurückhaltender in ihrer Einschätzung. „Farage ist gut darin, die Agenda in den Nachrichten zu bestimmen und die Öffentlichkeit anzusprechen, aber damit wird er nicht automatisch Wahlen gewinnen.“
Bei seiner Rede in Liverpool griff Starmer seinen Kontrahenten direkt an. „Wann habt ihr ihn zum letzten Mal etwas Positives über Großbritanniens Zukunft sagen hören? Er mag Großbritannien nicht! Er glaubt nicht an Großbritannien!“
Starmers Dilemma: Großbritannien glaubt aber an Farage. Reform UK liegt seit Mai in den Umfragen vorn.
Dass Farage jahrelang für den Brexit kämpfte, der viele Probleme des Landes auslöste oder verstärkte, scheint bei einem großen Teil der Briten vergessen.
Auch die eigene Partei greift Starmer an. Mit dem Oberbürgermeister von Manchester, Andrew Burnham, hat sich in den vergangenen Wochen ein direkter Gegenspieler aus der Deckung gewagt.
Ich bin bereit, jede Rolle zu übernehmen.
Andrew Burnham, Bürgermeister von Manchester und Rivale Starmers.
Bei einem öffentlichen Auftritt warf Burnham dem Premier und Parteivorsitzenden vor, „ein Klima der Angst“ bei Labour geschaffen zu haben.
Er selbst sei bereit, „jede Rolle zu übernehmen. Denn die Bedrohung, vor der wir stehen, ist eine existenzielle“.
Eine YouGov-Umfrage vom September zeigt, dass zwei von drei Labour-Mitgliedern Burnham gegenüber Starmer unterstützen würden, wenn es zu einem Wettbewerb um den Vorsitz käme.
Um Starmer auch als Premier zu stürzen, müsste Burnham aber zunächst von Manchester nach London ins Parlament wechseln und bräuchte dort die Unterstützung von mindestens 80 Abgeordneten.
„Aber schon Burnhams bloße Anwesenheit stellt eine Herausforderung für Starmers Autorität dar“, sagt Politologe Massey. „Auch wenn er die Hürden nicht überwinden kann, um eine Kandidatur zu erzwingen, lässt er den Labour-Vorsitzenden schwach und die Partei gespalten erscheinen.“
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Aus Sicht des Experten konnte Starmer die eigene Position durch die Rede von Liverpool zunächst stärken. „Doch die Herausforderung bleibt, die Botschaften in greifbare politische Veränderungen umzusetzen.“ Denn: „Parteitage entscheiden nicht über Wahlen.“
Spätestens im nächsten Mai wird es für Starmer aber wieder ernst. Dann stehen mehrere Regionalwahlen an. Sollte Labour dort deutlich verlieren, dürften auch die Tage des Premiers gezählt sein.