Bislang hat die EU insgesamt solch immense Staatsverschuldungen doch recht elegant abgefedert.

Kraemer: Es sind eher die Märkte, die dieses Problem abfedern. Solange sie weiterhin unverdrossen Staatsanleihen aus Frankreich und Italien kaufen – dort beträgt die Staatsverschuldung sogar 138 Prozent des BIP –, stabilisieren sie diese Länder finanziell.

Was könnte die Märkte davon abhalten, weiterhin französische Staatsanleihen zu kaufen?

Kraemer: In der derzeitigen Situation reicht dafür ein gar nicht mal so gravierender politischer Schock aus, etwa die Rücknahme der 2023 eingeführten Rentenreform. Sie entlastet die öffentlichen Kassen und ist, zumindest aus deutscher Sicht, inhaltlich harmlos: Schrittweise wird das Rentenalter von 62 auf 64 Jahre angehoben. Gegen diese Rentenreform gab es monatelange und teils gewaltsame Proteste. Sowohl die Linken als auch die Rechten sind bei den französischen Parlamentswahlen im Juni mit der Aussage angetreten, die Rentenreform zurückdrehen zu wollen.

Ist es denn realistisch, dass die Rentenreform zurückgedreht wird?

Kraemer: Dafür müssten die Linken und die Rechten zusammen stimmen – und zum Glück hassen sie einander mehr als die Rentenreform. Trotzdem zeigt dieses Beispiel: Sobald die Menschen in Frankreich das Gefühl haben, ihnen wird etwas an staatlichen Wohltaten weggenommen, formiert sich Protest. Stichwort: Gelbwesten. Umso wichtiger war, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Rentenreform durchgezogen hat. Das war mutig und hat den Märkten signalisiert: Hier bewegt sich noch etwas.

Demnächst wird sich eher wenig bewegen …

Kraemer: Im August ist ganz Frankreich im Urlaub und für die einzige Bewegung sorgen die Olympischen Spiele. Aber mal ernsthaft: Kommt es zu einem politischen Schock, ist Frankreich nicht mehr handlungsfähig. Die Zinsen für die aufgenommenen Schulden steigen, ebenso die Kosten für den demografischen Wandel. Auch mit einem Rentenalter von 64 Jahren werden die Kosten für Pensionen steigen, weil die zahlenstarke Boomer-Generation jetzt in Rente geht. Das alles treibt, wenn nicht gegengesteuert wird, die Staatsverschuldung weiter in die Höhe.

Welche Folgen hat es, wenn Frankreich nicht mehr handlungsfähig sein sollte?

Kraemer: Die Folgen betreffen die gesamte Europäische Union. In solch einer Situation ist die EZB, die Europäische Zentralbank, mit ihrem Rettungskasten gefordert. Dann ist die Zeit reif für das Transmission Protection Instrument.

Was ist das Transmission Protection Instrument?

Kraemer: Das Transmission Protection Instrument, kurz TPI, ermächtigt die EZB, Staatsanleihen einzelner Euroländer aufzukaufen, um die Kreditzinsen dieser Anleihen zu senken. Eine Grenze dafür, wie viel Staatsanleihen gekauft werden müssen, gibt es nicht. Das Problem beim TPI: Müssen unbegrenzt französische – oder auch italienische – Staatsanleihen aufgekauft werden, könnte der gesamte Euroraum in eine Schuldenkrise gezogen werden.