Gemeinsame Mahlzeiten spielen in der Geschichte der Menschheit eine wichtige Rolle. Uralte Tischsitten prägen unsere Gesellschaft bis heute. Eine Ausstellung in Herne erklärt, warum das so ist – und warum man sich zu manchen Zeiten vor Gift in Acht nehmen musste.
Das Foto ist an Symbolik kaum zu überbieten: Wladimir Putin empfängt Bundeskanzler Olaf Scholz. Die beiden sitzen an einem Tisch. Putin am einen Ende der Tafel, Scholz gegenüber, am anderen Ende – zwischen ihnen liegt eine Tischplatte von sechs Metern Länge, es ist die maximale Distanz, die innerhalb des Raumes möglich ist. Das Foto wurde im Februar 2022 aufgenommen, kurz danach startete Putin den Angriff auf die Ukraine.
Auf diesem Foto falle nicht nur der Abstand zwischen den beiden Tischgenossen auf, sagt der Kulturanthropologe und Volkskundler Gunther Hirschfelder. Zu erkennen sei auch, dass nichts auf dieser Tafel stehe – keine Speisen, keine Getränke, nicht einmal eine Schale mit Keksen. Die Kunstgeschichte, so Hirschfelder, werde das Bild später einmal so interpretieren: „Wenn sie gemeinsam gegessen hätten, hätte es keinen Krieg gegeben.“
Hirschfelder erwähnt das Putin-Scholz-Foto in einem einleitenden Interview, das im Katalog zur Ausstellung „Mahlzeit! Wie Essen uns verbindet“ gewissermaßen als Vorspeise gereicht wird. Anhand von rund 300 Exponaten, vom Faustkeil bis zur Konservendose, wird in dieser soeben eröffneten Schau des LWL-Museums für Archäologie in Herne gezeigt, welche Bedeutung das gemeinsame Essen in allen Kulturen der Welt hat – und wie uralte Tischsitten und -regeln unsere Gesellschaft bis heute prägen. Das Essen im Dienste der Diplomatie, das Putin seinem Gast Olaf Scholz so demonstrativ verweigerte, ist eines dieser Rituale, die seit Jahrhunderten gepflegt werden.
Ein Archäologiemuseum ist dafür prädestiniert, die Geschichte des Essens auszubreiten. Denn vor allem sind es Geschirr, Kochgeräte und Speisereste, die in den Abfallgruben unserer Vorfahren die Zeiten überdauert haben – oder in den Gräbern der Toten, denen man Speis und Trank für die Reise ins Jenseits mitgeben wollte. Geborgen von den Archäologen, analysiert mit modernsten naturwissenschaftlichen Methoden, lassen solche Funde heute bemerkenswert präzise Rückschlüsse darauf zu, was einst auf den Tisch kam. An den Tonscherben aus den Römerlagern an Rhein und Lippe kleben heute noch die Spuren von Garum, jener streng riechenden Fischsauce, mit denen die Legionäre des Augustus einst ihr Essen würzten.
Fast noch interessanter ist freilich die Frage: Wie wurde gegessen? Wer teilt mit wem den Tisch und warum? Und damit kommen wir zum Hauptgang der Ausstellung.
Das Totenmahl, das Traueressen, das Essen und Trinken aus Anlass der Bestattung einer verstorbenen Person also, sei das räumlich und zeitlich am weitesten verbreitete Ritual der Menschheitsgeschichte, so heißt es in der Ausstellung. In Mitteleuropa stammen die frühesten Nachweise dafür aus der eisenzeitlichen Lausitzer Kultur, die zwischen 1300 und 500 v. Chr. verbreitet war. Während einer Leichenverbrennung, die bis zu acht Stunden dauern konnte, fand ein umfangreiches Mahl in der Nähe des Scheiterhaufens statt. Nach der Verbrennung gab man Speisen und Getränke mit ins Grab. Die Verstorbenen sollten auch im Jenseits gut versorgt sein.
Anthropologen schreiben dem Leichenschmaus aber noch eine andere Funktion zu: Die Lebenden treffen sich nach dem Tod eines Angehörigen zum gemeinsamen Mahl, um einander zu signalisieren, dass die Gemeinschaft weiterhin funktions- und überlebensfähig ist, obwohl einer der ihren plötzlich fehlt.
Auch wenn Menschen neue Gemeinschaften bilden oder Verbindungen eingehen, entwickeln sie dieses Bedürfnis nach Tafelrunden, bei denen Zusammenhalt beschworen und besiegelt wird. So erklären sich die vielen Bräuche, die sich weltweit bei Hochzeitsmahlen beobachten lassen. Aus Mönchengladbach stammt eine sogenannte Doppelscheuer, die um das Jahr 1600 gefertigt wurde – dabei handelt es sich um zwei identische, kostbare Trinkpokale, die mit ihren Öffnungen aufeinandergestellt wurden. Damit reichte man dem Brautpaar den rituellen Hochzeitstrunk. Rund 200 Jahre später erfüllten im westfälischen Soest bemalte Hochzeitsflaschen einen ähnlichen Zweck, wer daraus trank, verleibte sich gewissermaßen den Schwur ein, der darauf geschrieben stand: „Ich bin getreu in allen Sachen, ich werd es bey meinem Schetzgen auch gut machen, vivat mein Liebgen.“
Warum ausgerechnet das Essen eine solche kulturbildende Kraft entwickelte – mit dieser Frage beschäftigt sich die Soziologin Eva Barlösius. Die Mahlzeit, so sagt sie in einem Interview zur Ausstellung, sei „eine der ersten sozialen Situationen“ im Leben eines Menschen. „Es ist auch die erste soziale Situation, die wir als Menschen erfahren, wenn wir gestillt werden.“ Daraus leitet Barlösius die These ab, „dass sich fast alle wichtigen sozialen Formen, die wir Menschen geschaffen haben, mit dem Essen entstanden sind.“ Aber Achtung: Mahlzeiten dienten zwar dazu, um zusammenzufinden und Zugehörigkeit auszudrücken, sagt sie. Aber andererseits, und damit kommen wir gewissermaßen zum Katzentisch neben der Festtafel, würden sie auch dazu benutzt, um Hierarchien herzustellen und Menschen auszugrenzen. Essen ist immer auch Statussymbol. Und Sitzordnungen sind eben auch Rangordnungen.
Schönes Beispiel hierfür: die Paradetafelordnung des Kölner Kurfürsten aus der Zeit um 1700, eine kostbare Handschrift, in der penibel genau skizziert wurde, wer wo zu sitzen hat. Die Inhaber von Hofämtern, die Leibgarde, der Vorschneider und der Vorkoster – alle haben einen festen Platz im streng choreografierten Tafelzeremoniell. Doch man muss nicht in die Vergangenheit blicken, um zu erkennen: Das Ritual wird oft zur Qual. Kinder, die bei Tisch stillhalten müssen und Benimmregeln zu befolgen haben, können ein Lied davon singen.
Das gemeinsame Mahl kann also durchaus widersprüchliche Eigenschaften haben: Es kann zwanglos oder zwanghaft sein, verbindend oder ausgrenzend. Es soll denen, die daran teilnehmen, Geborgenheit vermitteln – und doch stellt es mitunter Gefahr für Leib und Leben dar. Damit kommen wir quasi zum Dessert.
Das Gastrecht ist eine Konvention, die in vielen Kulturen der Weltgeschichte von größter Bedeutung ist. Wer als Gast zu Tisch gebeten wird, steht unter dem Schutz des Gastgebers. Allerdings wurde das blinde Vertrauen in dieses ungeschriebene Gesetz immer wieder ausgenutzt, um dem arglosen Gast Schaden zuzufügen oder ihn zu töten. Für das frühe Mittelalter sind einige solcher tödlichen Zwischenfälle beim Gastmahl belegt. So wie dieser aus dem Jahr 493: Nachdem Odoaker, König von Italien, sich mit seinem bisherigen Kontrahenten Theoderich darauf geeinigt hat, gemeinsam zu regieren, lädt Theoderich seinen Mitregenten Odoaker zum Festmahl. Der überlebt den Abend nicht. Theoderich ist nun Alleinherrscher.
Kein Wunder also, dass die Machthaber des Mittelalters und der Neuzeit stets auf der Hut sind. Gastrecht hin oder her. Das Zeremoniell des Vorkostens vor dem Mahl am Hof bekommt einen hohen Stellenwert. Und es werden Gerätschaften erfunden, von denen man sich Schutz vor giftigen Substanzen erhofft. Bis ins 17. Jahrhundert ist der Glaube verbreitet, dass Drachenzungen, Einhörner oder Gewölle aus Tiermägen, sogenannte Bezoare, ihre Farbe verändern würden oder zu schwitzen anfingen, wenn sich Gift in ihrer Nähe befindet. Der Natternbaum, ein Schmuckstück, das mit versteinerten Haizähnen behängt war und zum Besitz des Kurfürsten August von Sachsen (1526–1586) gehörte, ist ein solches Alarmgerät. Ob es je Gefahr angezeigt hat? Man weiß es nicht.
Olaf Scholz musste bei seinem Besuch bei Putin jedenfalls nicht auf derlei Hokuspokus zurückgreifen – es wurde ja kein Essen serviert.
afa