Sie sind dagegen, schon aus Prinzip und in diesem Fall auch aus konkreten Gründen. Ihre Eltern wollen die Zwillinge Hanni und Nanni zum Wechsel auf die höhere Schule ins Internat Lindenhof schicken und dadurch von ihren Freundinnen Mary und Fränzi trennen, die auf ein Internat namens Ringmeer gehen werden – eine Schule mit einem exzellenten Ruf, jedenfalls in den Augen von Fränzis Mutter. Die sagt, die Schule sei „fantastisch, nur wohlhabende Leute können es sich leisten, ihre Kinder dorthin zu schicken“. Außerdem gebe es kleine Schlafräume und keine Schuluniformen. Dagegen dieses Lindenhof, meckern die beiden Zwölfjährigen, „wo jeder hingehen kann, wo sechs oder acht Mädchen in einem Raum schlafen“.

Enid Blytons Kinderbuch „Hanni und Nanni sind immer dagegen“, im Original unter dem Titel „The Twins At St. Clare’s“ 1941 erschienen, ist der Auftakt einer immens erfolgreichen Reihe mit ursprünglich sechs Bänden, die nach dem Tod der Autorin im Jahr 1968 in der deutschen Fassung frei weitererzählt und auf insgesamt 33 Romane aufgestockt wurde – eine Werkausgabe von 2013 bündelt all das auf 2830 Dünndruckseiten.

Puh, diese graue Schuluniform!

Die Generation der Babyboomer ist mit Hanni und Nanni aufgewachsen, sie hat sich auf die Hörspiele gestürzt und womöglich später mit ihren Kindern die Kinofilme gesehen. Und sie hat die nur wenig verhüllte Botschaft in sich aufgenommen, die Enid Blyton der Buchreihe vom ersten Band an mitgegeben hat: Wer sich daran stört, dass in die neue Schule „jeder hingehen kann“ und nicht nur die Kinder „wohlhabender Leute“, wer sich außerdem dagegen wehrt, eine – hier: graue – Schuluniform zu tragen und also aus der Gruppe der Mitschülerinnen nicht weiter herauszustechen, den trifft zu Recht ein Vorwurf, wie ihn der Vater der Zwillinge an seine Töchter richtet. Als sie ihn bitten, die Entscheidung zur Schulwahl doch noch einmal zu überdenken, hält er ihnen entgegen, er habe festgestellt, „dass ihr beide im letzten Jahr sehr eingebildet und ziemlich überheblich geworden seid. Wenn ihr ganz von vorn beginnen müsst und herausfindet, dass ihr gar nicht so viel könnt, wie ihr glaubt, so wird euch das nur guttun!“

Die Schule soll also eine Erziehungsaufgabe übernehmen, an der die Eltern scheitern – das ist ein gesellschaftlicher Befund, der jenseits der Fiktion bis heute wahrnehmbar ist. Immerhin sind die Eltern der Zwillinge vernünftig genug, die wachsende Arroganz ihrer Töchter zu erkennen, was allerdings auch den Lesern nicht weiter schwerfällt, wenn Hanni bereits auf Seite vier des Buches meint: „Es ist nun mal eine Tatsache, dass wir beide sehr intelligent sind und noch dazu gut aussehen.“ Dennoch haben es die Eltern, so der Tenor des Buches, in der Hand, die entscheidenden Weichen für ihre Töchter zu stellen, und zwar über die Wahl der Schule. Sie entscheiden sich für das egalitäre Internat Lindenhof, Fränzis snobistische Mutter für Ringmeer. Und ernten, was sie gesät haben.

Die jungen Schülerinnen kochen den älteren Tee

Wissensfrüchte sind das nicht, jedenfalls stehen sie nicht im Vordergrund dieser und vieler anderer Bücher, die für junge Leser von Schulen aller Art erzählen. Die schulische Laufbahn, meist über viele Jahre verfolgt, ist vor allem eine Erziehung des Herzens. Hanni und Nanni lernen schnell, dass sie sich in eine Gemeinschaft einfügen müssen, deren geschriebene Regeln von den Lehrerinnen definiert werden, während die ungeschriebenen unter den Schülerinnen tradiert werden und sich dabei als erstaunlich konservativ erweisen.

Man erzieht sich also gegenseitig, und wenn die Schulregel besagt, dass die jüngeren Schülerinnen den älteren Dienste leisten, ihnen beispielsweise die Schuhe putzen oder den Tee servieren, dann sorgen die Schülerinnen untereinander dafür, dass daran nicht gerüttelt wird. Gerade Neuankömmlinge werden mit einigem Druck in die bestehende Ordnung gezwängt oder sonst genötigt, die Einrichtung nach Ablauf des Schuljahres wieder zu verlassen. Liest man dieses Erziehungskonzept von 1941 mit dem Bewusstsein unserer Gegenwart, sticht das Fragwürdige daran sofort ins Auge.

Schränkeschieben und verschwitzte Hemden

Es bleibt Blytons deutschem Pendant Oliver Hassencamp, Internatsschüler in Salem, Soldat im Zweiten Weltkrieg und Gründungsmitglied der Münchner Lach- und Schießgesellschaft, vorbehalten, diesen Gruppenzwang im Schulroman zur Kenntlichkeit zu bringen. In seiner Buchreihe um das Internat „Schloss Schreckenstein“, begonnen 1959 und in 27 Bänden bis 1988 weitergeführt, wird abweichendes Verhalten von den selbst auferlegten Regeln der Schülergemeinschaft körperlich bestraft. Die Jungen, die sich als späte Ritter inszenieren, dulden individuelle Freiheit nur in dem Rahmen, den das Kollektiv – beziehungsweise eine Gruppe von Wortführern – definiert. Bisweilen gibt es organisierten Gesellschaftstanz (im Jargon der Jungs: „Schränkeschieben“) mit den Mädchen vom benachbarten Internat oder einen Wettbewerb mit dem Ziel, Oberhemden so lange zu tragen, dass sie vor lauter Schmutz von selbst stehen, und dergleichen mehr. Es dürfte kaum eine Jugendbuchreihe geben, die so rasch so muffig geworden ist wie diese.

Tatsächlich galt seit den Siebzigerjahren in Deutschland das Internat als Schauplatz für Kinder- und Jugendbücher unter Autoren und Verlegern als zumindest fragwürdig. Vertreter des dezidiert realistischen Kinderbuchs wie beispielsweise Peter Härtling kritisierten, dass mit der Wahl dieses Settings die Lebenswirklichkeit allenfalls eines Bruchteils der Schülerschaft ausgiebig dargestellt werde, und plädierten für einen Blick auf den Betrieb in normalen Schulen.

Harry Potters bittere Erkenntnis

Als dann aber mit J. K. Rowlings Fantasy-Serie „Harry Potter“ das Genre 1997 einen erneuten, fulminanten Siegeszug auf dem weltweiten Buchmarkt begann, hatten sich die Vorzeichen grundlegend gewandelt. Mit den Verhältnissen in gewöhnlichen Schulen hatten die Bücher nun noch viel weniger zu tun als ihre Vorgänger von Blyton und Hassencamp. Der Snobismus, der in Blytons Schulromanen – neben „Hanni und Nanni“ ist das vor allem die sehr ähnliche „Dolly“-Serie – so negativ gezeichnet wird, macht sich hier weniger an finanziellen Verhältnissen fest als an vermeintlichem „reinen Blut“, also der Herkunft aus alten Zaubererfamilien. Deren Protagonisten, allen voran der junge Draco Malfoy, sehen auf die von ihnen als „Schlammblüter“ bezeichneten Kinder aus nichtmagischen Familien herab – ausgerechnet die von Malfoy besonders verachtete Hermine Granger erweist sich dann als regelmäßige Jahrgangsbeste. Offensichtlich hält die Autorin Rowling wenig vom Pochen auf ererbte Privilegien und viel vom sozialen Aufstieg durch Fleiß und Talent.

Vor allem aber erscheint die Schule Hogwarts, in die der Held der Serie gerät, nun als Rettung vor einer zutiefst unerfreulichen Welt, als eine Art abgeschottetes Biotop, in dem die Schäden ausgeglichen werden, die die ungeliebte Waise Harry Potter außerhalb dieser Zuflucht erlitten hat. Umso grausamer die Erkenntnis, dass von der Schule als geschütztem Raum nichts bleibt, wenn einem die Lehrer dort vermeintlich (Snape) oder tatsächlich (Quirrell) buchstäblich nach dem Leben trachten und die früheren psychischen Grausamkeiten von Pädagogen wie „Gott Kupfer“ in Friedrich Torbergs „Der Schüler Gerber“ nun in handfeste Mordversuche münden. Dennoch bleibt Hogwarts für den Zauberschüler Harry wie für die Leser ein Faszinosum, wahrscheinlich gerade wegen der Unberechenbarkeit dieser Schulwelt, deren charismatischer Leiter, Professor Dumbledore, sich von Buch zu Buch als zunehmend hilflos erweist oder zumindest diesen Anschein erweckt.

Ich bin Werwolf, und ich bin stolz darauf!

Der ungeheure Erfolg dieser Serie mit ihren diversen Ablegern und Adaptionen rief eine Vielzahl von ähnlich strukturierten Fantasy-Reihen auf den Plan, Internate für magisch begabte Kinder jeglicher Couleur, Tiermenschen, Vampire, Werwölfe, Zombies, Abkömmlinge griechischer Götter und vieles mehr. Als gemeinsamer Nenner, wenn auch nur unterschwellig präsent, zeigt sich dabei bis in die Gegenwart das Angebot an Kinder, die es – wie Rick Riordans Figur „Percy Jackson“ – in normalen Bildungseinrichtungen schwer haben: Was ein Kind daran hindert, sich in eine normale Schule einzufügen, ist keine Schwäche, sondern eine Stärke, die nur noch nicht erkannt worden ist; was unverständige Menschen ADHS nennen, ist in Wirklichkeit das genetische Erbe als Sohn des Poseidon, so in etwa.

Und wenn in Vanessa Walders jüngst erschienenem Roman „Nightmore“ der junge Fynn von einem Werwolf gebissen wird und daher eine Schule besuchen muss, die auf seinesgleichen ausgelegt ist, dann wird im Verlauf des schmalen Buches aus einem anfänglichen Fluchtimpuls zurück ins alte Leben schließlich das selbstbewusste Bejahen seiner Existenz. Das Kinderbuch endet mit dem Angebot seiner angereisten Eltern, ihn wieder zurück nach Hause zu holen – „die sind ja völlig irre hier“, sagt sein Vater, während seine Mutter das Internat „lebensgefährlich“ findet (was ihr Sohn fröhlich bestätigt). Er sei hier ja „gar nicht du selbst“, sagt sie zu Fynn. „Doch, Mama“, antwortet er, „ich war ganz ich selbst: ein Werwolf. Und das ist gar nicht mal so schlecht.“

Seriöse Padagogen muss man mit der Lupe suchen

So dick tragen andere Bücher nicht auf, um die Rolle zu betonen, die eine gute Schule als Ergänzung oder auch als Gegengewicht zu dem einnehmen kann, was ein Kind zu Hause erlebt. Dabei hat die Zauberschule als Gefängnis, wie sie noch Otfried Preußlers Roman „Krabat“ beschrieb, offenbar ausgedient. Ob Internat oder herkömmliche Bildungsanstalt, fungiert Schule in der Literatur als Hallraum, als Hintergrund oder auch als Störfaktor für ein Leben, das auch andernorts stattfindet. Natürlich kommen Kinderbücher, auch ohne aus: Michael Endes Momo etwa geht gar nicht zur Schule, bei Tove Janssons Mumins würde Unterricht das ewige Abenteuer der Trolle nur stören, und Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf absolviert eine einzige Schulstunde, die wohl keiner der Beteiligten wiederholen möchte – Pippi wohl kaum, weil sich der geregelte Lernstoff als äußerst unbequem und in ihren Augen sinnlos erweist, und die Lehrerin nicht, weil das zutiefst subversive Mädchen mit ihren am gesunden Menschenverstand orientierten Fragen und Einwänden den Grundkonsens der Klasse infrage stellt.

Nicht immer ist das Verhältnis zwischen Lehrerin und Schülerin so klar. Pädagogen als verlässliche Instanz, als seriöse Orientierungsmarke in einer verwirrenden Welt – das gilt für „Hanni und Nanni“ oder für den gütigen Direktor „Justus“ in Erich Kästners „Das fliegende Klassenzimmer“. Wenn aber solche Lehrer nicht in Sicht sind, nur solche, die vom Schulbetrieb längst ermattet sind, vor allem ihre Ruhe haben wollen und die Jahre bis zur Rente zählen?

Der größte Chaot der Klasse kriegt eine eigene Buchreihe

In Christian Seltmanns Roman „Der Lehrerinnendrucker“ stellen zwei Schüler mit einer entsprechenden Maschine eine wunschgemäße Lehrerin selbst her. In Sabine Ludwigs 2011 begonnener Reihe um die englische Austauschlehrerin Miss Braitwhistle dagegen ist das nicht nötig. Die chaotische Klasse 4a – das „a“ übersetzen sich manche als Abkürzung für „Albtraum“ –, die niemand in den Griff bekommt, wird von der Mary-Poppins-haften Lehrerin permanent beeindruckt, überrascht und herausgefordert. Während andere Lehrer die Unruhe und Dynamik innerhalb der Klasse einhegen wollen, bedient sich Miss Braitwhistle gerade dieser Impulse, lenkt das Geschehen aber in die von ihr gewünschte Richtung, auch mit ein wenig Magie. Mittlerweile sind sechs Bände der Serie erschienen.

Auch in Marie Hüttners Roman „Rocky Winterfeld“ zieht eine Lehrerin im Hintergrund und mit einer Art Schnitzeljagd die Fäden, bis sich eine Gruppe von hochbegabten Schülern in einem Reisebus nach Polen wiederfindet, gesteuert von der Lehrerin. Sie ist es, die mit ungewöhnlichem Engagement und einigen Überraschungen aus den auf je unterschiedliche Weise unglücklichen Kindern das herausholt, was sie eigentlich sind und wollen. In Timo Parvelas finnischer Schulbuchserie „Ella“ dagegen sind die Gewichte wie gewohnt zwischen chaotischen Schülern und einem so liebenswerten wie überforderten Klassenlehrer verteilt, nur dass hier die Bereitschaft beider Seiten, die Anforderungen des Schulalltags miteinander zu bewältigen, außer Frage steht, zugleich aber von irgendeiner Berechenbarkeit keine Rede sein kann – Pekka, dem größten Chaoten der Klasse, sind mittlerweile eigene Bände der Reihe gewidmet.

Was Autorität ist, wird in den neueren Büchern zum Thema ganz anders aufgefasst als in den Gründungswerken des Genres und ebenso, welche Rolle die Schüler dabei spielen. Davon, dass Schulgeschichten noch längst nicht auserzählt sind, zeugen die vielen Bücher zum Thema, die jedes Jahr erscheinen. Die besten unter ihnen fragen danach, wie eine Schule aussehen könnte, die allen gerecht wird. Lesen wir weiter.