Der britische Premierminister steckt in einem Popularitätstief. In Liverpool bekennt der oft blass wirkende Politiker Farbe und brandmarkt Reform UK als rassistisch.
David Signer, Liverpool30.09.2025, 17.51 UhrPremierminister Keir Starmer an der Konferenz der Labour-Partei in Liverpool.
Jon Super / AP
Parteitage sind normalerweise narzisstische Veranstaltungen: Die Partei und ihre Mitglieder feiern sich selbst. Aber der Parteitag von Labour in Liverpool erinnert dieses Jahr eher an einen mühseligen Orientierungslauf im Nebel. Niemand scheint zu wissen, wo es langgeht. Keir Starmer verzeichnet die schlechtesten Umfragewerte eines britischen Premierministers seit fünfzig Jahren. In Europa wird er punkto Unbeliebtheit nur noch vom verhassten Emmanuel Macron übertroffen. Fänden heute Wahlen statt, würde die rechtspopulistische Reform UK die Labour-Partei haushoch schlagen.
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Schattenboxen mit Reform UK
Da die konservativen Tories ziemlich irrelevant geworden sind, arbeitet sich Labour vor allem an Nigel Farage ab. Wo allerdings Kontrast gefragt wäre, ähnelt die Auseinandersetzung manchmal einer Spiegelfechterei. Schon der allgegenwärtige Labour-Slogan «Renew Britain» erinnert verdächtig an Reform UK. Und während Reform UK an ihrem Parteitag in Birmingham auf das Symbol der Busse setzte, die überall herumstanden, demonstrierte Labour den angeblichen Drive der Partei in der Konferenzhalle ausgerechnet mit einem – Bus.
Nigel Farages Partei setzt vor allem auf den Kampf gegen die Migration. Also versuchte Starmer es ihnen diesen Sommer gleichzutun und sprach davon, Grossbritannien werde zu einer «Insel der Fremden». Es gab so viele empörte Reaktionen, dass er sich entschuldigte und den Kurs änderte. Nun warnt er vor Rassismus, rechtem Ethno-Nationalismus und preist die Diversität von Grossbritannien. «Wir stehen an einer Weggabelung», sagte er in Liverpool. «Dies ist ein Kampf darum, wer wir als Land sind. Es geht um die Seele unserer Nation – das wird Folgen für Generationen haben.» Bei einer falschen Abzweigung würden Rechtspopulisten das Land spalten und alles zerstören, was Grossbritannien grossartig mache, sagte er.
Labour steht stellvertretend für die Krise vieler Mitte-Parteien. Was man als differenziert und flexibel charakterisieren könnte, empfinden inzwischen auch viele Parteimitglieder als Zickzackkurs. Oft hörte man selbst an der Konferenz in Liverpool die Meinung, Starmer sei ein Wendehals, der mal nach rechts und mal nach links laviere, je nach Umständen.
Starmers Angriff verschafft Farage zusätzliche Publicity
Dabei war seine Rede am Dienstagnachmittag durchaus gut – argumentativ scharf und gemessen an seinen anderen Reden geradezu mitreissend. Er sprach von Strategien, die Kinderarmut zu besiegen, von einer diversifizierten Bildung, die nicht mehr nur auf Universitäten setzt, von Gaza und vom schmalen Grat zwischen Redefreiheit und der Verhinderung von Hassrede.
Vor allem aber griff er Reform UK frontal an. Er sprach von einer Entscheidung zwischen Anstand und Spaltung und warnte vor Verführern mit billigen Versprechen, die die Nation in den Ruin und ins Chaos führen würden. Er versuchte, den Patriotismus nicht den Rechten zu überlassen. «Unsere Flagge gehört allen», rief er in die Zuschauermenge, die prompt die verteilten Fähnchen schwenkte. «Patriotismus bedeutet Liebe und Stolz», sagte er. «Aber habt ihr jemals etwas Liebevolles von Farage gehört? Alles, was er tut, ist, Grossbritannien schlechtzumachen und Zwietracht zu säen.» Reform UK suche keine Lösungen, sagte Starmer, sondern Probleme, um sie zu bewirtschaften. Die «Partei des Grolls« nannte er die Rechtspartei. Farages Drohung, auch Leute mit unbefristetem Aufenthaltsstatus auszuweisen, brandmarkte Starmer als rassistisch und unmoralisch.
Das Heikle an der Anti-Reform-UK-Strategie ist allerdings, dass man Farage dadurch noch mehr Relevanz und Publicity gibt. Sie erinnert an die Dämonisierung von Trump im amerikanischen Wahlkampf, die den Demokraten bekanntlich auch nicht zum Sieg verholfen hat.
Starmer kann es nicht allen in der Partei recht machen
Ein weiteres, grundsätzliches Problem ist, dass Starmer es auch mit dem kühnsten Spagat unmöglich allen in seiner Partei recht machen kann. Umfragen zeigen, dass 14 Prozent derjenigen, die vor einem Jahr Labour wählten, inzwischen Reform UK wählen würden, und 26 Prozent würden für Parteien links von Labour votieren. Diese Polarisierung wird sich durch die Gründung der linken Your Party durch den ehemaligen Labour-Chef Jeremy Corbyn noch verstärken. Egal, mit wem man am Parteitag spricht, fast alle haben an Starmer etwas auszusetzen.
Tom Norman zum Beispiel, ein junger Jurist, ärgert sich, dass Starmer in letzter Zeit auch dauernd die Migration problematisiert habe. «Er sollte deutlich machen, dass Einwanderung unserem Land nützt», sagt er. «Alles andere bedient nur das Narrativ von Farage.» Man könne Farage nicht mit seinen eigenen Waffen schlagen. «Wir müssen uns auf unsere eigenen Kernthemen besinnen – Wirtschaftswachstum, Jobs, höhere Löhne, Infrastruktur, Soziales – anstatt uns zu überlegen, was wir von der Rechten imitieren könnten.»
Des Waters, ein älterer Delegierter aus Suffolk, wiederum empfindet die Partei als zu weit von der Basis entfernt. Sie kümmere sich zu sehr um Kommunikation, um ihr Image, um Internes, um die politischen Querelen in London anstatt um die realen Probleme in der Provinz. Starmers Kehrtwenden in der Sozialpolitik empfindet er als erratisch. Und dann gibt es die Linken wie Jordan Creek aus Bristol, der Labour als sozialistische Arbeiterpartei versteht. «Wäre er kein Antisemit, würde ich für Corbyn und seine neue Partei stimmen», sagt er. Leute wie Becky Warnes wiederum, Vertreterin einer Pharma-Firma, finden, Labour müsste sich vor allem um den darniederliegenden Nationalen Gesundheitsdienst NHS kümmern.
Der Versuch, Farage durch Imitation zu besiegen
Die Spaltung zeigt sich auch bei den Kabinettsmitgliedern. Am Montag hielt die Innenministerin Shabana Mahmood eine feurige Rede, in der sie eine härtere Gangart gegen Migranten versprach, weil die Arbeiter sonst zu Reform UK abwandern werden, wie sie selbst erklärte. Sie versuche, Farage zu besiegen, indem sie ihn kopiere, meinte ein Zuhörer spöttisch. Tatsächlich stand der Tenor ihrer Rede Starmers Anti-Farage-Tirade diametral entgegen. Das verstärkte den Eindruck einer richtungslosen Partei, die auf ihren Gegner fixiert ist und kopflos mal hierhin, mal dahin rennt.
Es ist wie bei einer Liebesbeziehung. Genau das, was die Wähler am Anfang reizvoll fanden, nervte sie irgendwann. Sie schätzten die biedere, technokratische Art von Starmer nach den Irrlichtern Boris Johnson und Liz Truss. Aber jetzt werden dieselben Attribute, die ihn einst als seriös erscheinen liessen, auf einmal als Führungsschwäche wahrgenommen, als graue Langeweile. Für viele gilt er inzwischen als Bürokrat mit dem Charisma eines Buchhalters, als Mann ohne Eigenschaften.