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Der Faschismusforscher Anton Shekhovtsov spricht im Interview mit der FR über den Politiker-Typus Putin, seinen Krieg und seine Angst vor der Ukraine.
Frankfurt am Main – Die Ukraine ist aus russischer Sicht ein Verräter. Der muss eliminiert werden. So erklärt der Politikwissenschaftler Shekhovtsov die Haltung des Regimes von Präsident Wladimir Putin im seit drei Jahren andauernden Ukraine-Krieg. Ein Gespräch über Putins Ziele,
Herr Shekhovtsov, wir sehen in Westeuropa derzeit eine ganze Serie an Verletzungen von Luftraum und Territorialhoheit durch Russland. Was ist das?
Anton Shekhovtsov: Für mich sieht das wie psychologische Kriegsführung gegen diejenigen Länder aus, die die Ukraine unterstützen. Es gab solche Vorfälle in Rumänien, Polen und den baltischen Staaten, nicht aber in der Slowakei oder Ungarn. Die Russen haben auch gesagt, dass sie keine Ziele in Polen hatten. Sie haben also keine Stützpunkte, Anlagen oder Gebäude angegriffen. Das Hauptziel Russlands ist es, die Unterstützung für die Ukraine zu untergraben. Die Russen scheinen die Emotionen und Ängste der Bevölkerung zu nutzen, um ihre Regierungen davon zu überzeugen, die Unterstützung für die Ukraine aufzugeben. Auch als russische Kampfflugzeuge den estnischen Luftraum verletzt haben, hatten die keine militärischen Ziele. Ziel war es, psychologischen Druck auszuüben.
Kein Schritt Richtung Frieden: Das Treffen von US-Präsident Donald Trump mit Wladimir Putin in Alaska. © Julia Demaree Nikhinson/dpaPutins Ziel im Ukraine-Krieg: Die NATO spalten, den Feind schwächen
So etwas kann aber auch nach hinten losgehen.
Das haben wir aber noch nicht gesehen. Und jetzt ist die NATO uneinig darüber, wie sie auf diese Verstöße reagieren soll. Drohnen kann man einfach abschießen. Bei Jets ist das anders. Wenn man seinen Feind in einem kinetischen Kampf nicht besiegen kann, sorgt man dafür, dass sich der Feind spaltet. Und das ist eines der Ziele Russlands.
Russland arbeitet auf sehr vielen Ebenen. Lässt sich dieser Fluss denn systematisch erfassen?
Die Narrative, die Russland im Ukraine-Krieg bedient, lassen sich in zwei Felder unterteilen: strategische und taktische. Strategische Narrative sind solche, woran die russischen Behörden tatsächlich glauben. Sie glauben zum Beispiel, dass der Westen eine Bedrohung für Russland darstellt. Sie glauben, dass die westliche Demokratie und die westlichen Werte eine Bedrohung darstellen. Sie sagen ja auch: Wir sind die wahren Vertreter westlicher Werte. Sie glauben auch, dass der größte Teil der Ukraine Teil der russischen Zivilisation ist. Und dann gibt es taktische Erzählungen, die dazu dienen, die strategischen Erzählungen zu stärken, oder einfach nur Störfaktoren sind. Zum Beispiel, dass die Ukraine eine Art Nazi-Regime sei. Gleichzeitig haben sie die taktische Erzählung, die besagt, dass die Ukraine keine Ideologie habe. Die Ukraine sei einfach nichts. Man kann aber nicht beides sein: Entweder ist man ein Nazi-Regime oder man hat keine Ideologie.
Entweder ist man ein Nazi-Regime oder man hat keine Ideologie.
Dieses Nazi-Narrativ geht auf die frühe Sowjetzeit zurück. Das wirft die Fragen auf, ob Russland denn jemals wirklich akzeptiert hat, dass die Ukraine nicht Russland ist und seit wann Russland diesen Krieg geplant hat.
Es ist die russische Führung, die ein Problem damit hat. Aber es ist eine Sache, ein Problem zu sehen und eine andere, etwas dagegen zu tut. Manchmal hat man zwar Ideen, aber wenn man nicht über die Ressourcen verfügt, um diese umzusetzen, tut man es nicht. Aber irgendwann dachten sie: Ja, wir haben genug Geld, wir haben genug Einfluss auf die europäischen Länder. Irgendwann dachten sie also: Versuchen wir es.
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Wann, glauben Sie, entstand diese Idee?
Ich glaube, diese Idee hatten sie von Anfang an. Putin ist ein KGB-Mann. Und genau das ist der Unterschied zwischen Politikern mit zivilem Hintergrund und Menschen aus Sicherheitsdiensten. Für Sicherheitsdienste gibt es keine Grauzonen. Es gibt eine Bedrohung – und man beseitigt sie. Politiker mit anderem Hintergrund verhandeln. Für Putin gibt es keine Verhandlungen.
Neue Angriffe
Bei den schweren russischen Luftangriffen auf die Ukraine sind mindestens fünf Menschen getötet worden. Russland habe mehr als 50 Raketen und Marschflugkörper sowie rund 500 Drohnen eingesetzt, hieß es. Laut Behörden starben in der Region Lwiw an der polnischen Grenze vier Menschen.
Die auf polnischer Seite wegen der Gefahr zeitweise aufgestiegenen Kampfjets und aktivierten Flak- und Radaraufklärungssysteme kehrten nach Militärangaben wieder zum Normalbetrieb zurück. „Wir möchten Sie darüber informieren, dass keine Verletzung des polnischen Luftraums beobachtet wurde“, hieß es in einer Mitteilung. dpa
Putin betrachtet die Ukraine als Verräter am russischen Regime
Ein anderes Prinzip ist Verschwiegenheit. Kiew hat sein KGB-Archiv geöffnet. Wie sehr ist das denn ein Schlag für eine russische Regierung, die überwiegend aus KGB-Leuten besteht?
Es ist ein Schlag. Die Ukraine war Teil dieser Sowjetzeit – ein zentraler. In den baltischen Staaten gab es zum Beispiel keine höheren KGB-Schulen, weil Moskau den Balten nie vertraut hat. Aber sie vertrauten den Ukrainern. Daher verfügt die Ukraine über viele Akten. Die Öffnung dieser Archive wird als feindlicher Aktion gesehen. Wenn man sich ansieht, wen Putin mit Mordanschlägen ins Visier nimmt, dann sind das vor allem Leute, die aus den Sicherheitsdiensten übergelaufen sind. Sie gelten als Verräter. Und es gibt nur einen Weg, mit Verrätern umzugehen: Man eliminiert sie. Die Ukraine ist aus Sicht des russischen Regimes ein Verräter.
Anton Shekhovtsov ist ukrainischer Politikwissenschaftler und Direktor des Centre for Democratic Integrity in Wien. Es befasst sich mit der „Analyse von Einflüssen autoritärer Regime auf die demokratische Ordnung Europas“. © Privat
Russlands Sicht auf die Ukraine äußert sich in einer Rhetorik blanken Hasses. Ist diese Ukrainophobie eine Reaktion auf den ukrainischen Widerstand oder ist das inhärent?
Die einfachste Definition von Ukrainophobie ist, dass man der ukrainischen Nation das Recht abspricht, als von den Russen getrennte Nation zu existieren – dies hat seine Wurzeln im Russischen Reich. Dort konnte man sich nicht vorstellen, dass die ukrainische ethnische Gemeinschaft als politische Nation behandelt werden könnte, sondern sie wurde entweder als eine vernachlässigbare Gruppe ungebildeter Menschen oder einfach als Teil der größeren russischen Nation betrachtet. Das heutige Moskau verweigert der Ukraine ihre Souveränität und das Recht, als unabhängige Nation zu existieren. Ukrainophobie ist tief in der russischen politischen Kultur verwurzelt.
Putins Erklärung für die Invasion: die Ukraine existiert nicht
In einem Informationskrieg gibt es zwei Seiten: Die sendende und die empfangende. Welche Rolle spielen denn letztlich einfach Wissenslücken, wenn Russland seine Narrative aussendet?
In einer Materie, die man nicht kennt, greift man die ersten Informationen auf, die einen erreichen und hält an ihnen fest. Das ist ein psychologisches Phänomen. Für viele Menschen besteht ein Mangel an Informationen. Und dann kommt Russland und sagt: Nun, die Ukraine existiert nicht. Das ist eine der Strategien Russlands.
Das geht aber auch andersrum. Zuletzt hat ein bekannter deutscher Komiker gemeint, er habe zunächst die Ukraine unterstützt, sich dann aber informiert und betrachte Russlands Aktionen als legitim, und dass er für Frieden mit diesem Russland sei.
Diese Erzählung über den Frieden ist extrem wirkungsvoll. Und diese Erzählung ist auch nicht neu. Die Sowjetunion hat zwei Dinge in Bezug auf den Westen unternommen: In den Ländern, in denen kommunistische oder sozialistische Parteien legal waren, haben sie diese Parteien finanziert. Und in Ländern, in denen kommunistische Parteien entweder illegal oder marginalisiert waren, haben die Sowjets Finanzmittel für Friedensbewegungen und diejenigen bereitgestellt, die gegen die Militarisierung oder die Produktion von Waffen waren. Und nun ist es den Russen gelungen, die extreme Rechte ebenfalls für diesen Protest gegen Krieg zu gewinnen. Mit Krieg meinen sie westliche Unterstützung für die Ukraine. Die Idee ist, dass der Krieg umso schneller vorbei sein werde, je früher man aufhört, die Ukraine zu unterstützen. Das wäre natürlich der militärische Sieg Russlands. Und dann manipulieren die Russen diese Erzählung und sagen: Wenn du dafür bist, dann bist du für den Krieg. Dann bist du für all die schlimmen Dinge, die aus dem Krieg hervorgehen.
Besteht denn ausreichend Bewusstsein darüber, was denn die Sowjetunion tatsächlich war?
Ich glaube, im Westen gibt es wenig Verständnis. Es gab nie ein Tribunal. Und es gab nie eine echte Diskussion, über die Unmenschlichkeit der Sowjetunion. Die Sowjetunion hat Millionen von Menschen getötet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden diese Verbrechen aber vergeben – und das ist meiner Meinung nach einer der Gründe, warum Russland sich heute so verhält, wie es sich verhält. Dieses Übel, dieses politische Übel wurde nicht bestraft. (Das Interview führte Stefan Schocher)