Kioskkultur Ostfildern: „Hamburg Süd“ in Kemnat:  Ein Ex-Seemann mit Faible für Nostalgie Der Hamburger Seemann Horst Giese bringt Kultur und nostalgisches Flair in sein Kiosk in Kemnat. Foto: Kathrin Horster

Im ‚HamburgSüd‘ bewahrt Inhaber Nicolas Giese ein Stück Kemnater Einkaufsgeschichte mit Nostalgieflair, setzt dabei aber auf ein individuelles Konzept und zweites Standbein, die Kultur.

Bei Nicolas Giese bekommt man nicht nur Radiergummis, Schulhefte der Marke Oxford, Zeitungen und sogar Klopapier, sondern, falls nötig, auch mal Vokabelnachhilfe. Beim Ortstermin in dessen Kemnater Kiosk ‚HamburgSüd‘ will eine Frau, die nur Englisch spricht, einen Kugelschreiber bezahlen. Das Wort „Bon“ kennt die Dame nicht; also kritzelt Giese die drei Buchstaben auf die Papiertüte, in die er gerade den Kuli packen wollte. „In Great Britain you say ‚bill‘. In Germany we say ‚Quittung‘ or ‚Bon‘, B-o-n!“, buchstabiert er vor. Die Frau lacht, „ah, thank you“, Giese strahlt.

Seit 2018 betreibt der gebürtige Hamburger Seemann im Ostfildener Stadtteil Kemnat sein Trafik-Café in der Heumadener Straße 1, aus dem verflixten siebten Jahr sei er gerade raus. Bis Giese seine Frau, eine gebürtige Schwäbin kennen lernt, fährt er für die Reederei Hamburg-Süd vom Puddingfabrikanten Dr. Oetker um die Welt. Die Liebe ließ ihn stranden, sagt er, und lacht donnernd. Von der Decke des Ladens baumeln hölzerne Schiffsmodelle, die Theke ist von orangefarbenem Containerblech umrahmt, im Schaufenster hängt neben einer Lotto-Werbung ein Rettungsring.

„Kemnat ist tot“: Giese kämpft gegen den Onlinehandel Kiosk-Kultur in Kemnat: Das „Hamburg Süd“ von außen. Foto: Kathrin Horster

Heimweh nach dem alten Leben hat Giese nicht, auch wenn es im Kiosk nicht immer rund läuft. „Kemnat ist tot, seit vor einem Jahr der Supermarkt zugemacht hat“, beschreibt Giese die aktuelle Situation schonungslos offen. Außerdem kauften die meisten Leute ihr Büromaterial inzwischen beim Aldi, auch Kinder kämen gar nicht mehr, um bei ihm Tintenpatronen oder Hefte zu holen. „Das erledigen die Mütter im Internet. Ehrlich, die Deutschen sparen an den Schulmitteln ihrer Kinder, das Geld wird lieber in den nächsten Urlaub oder den Musicalbesuch gesteckt“, konstatiert Giese düster, auch auf Basis der Erfahrungen seiner Frau, einer Grundschullehrerin. Wie nah ihm die Zeitenwende mit dem Erstarken des Onlinehandels geht, merkt man Giese im Gespräch deutlich an.

Kein Wunder, dass ein Besuch im HamburgSüd wie eine kleine Zeitreise wirkt. Schon beim Betreten des Ladenlokals fühlt man sich – abgesehen von den nautischen Dekorationsdetails – in die 1970er und 1980er Jahre versetzt, als der Kiosk um die Ecke zu den wichtigsten Nahversorgern und sozialen Treffpunkten der Menschen gehörte. Giese, so scheint es, versucht diesen Geist in seinem nostalgisch anmutenden Interieur zu bewahren. Gleichzeitig interpretiert er das inzwischen historische Kiosk-Format eigenwillig neu. Neben dem typischen Sortiment bietet der redefreudige Hamburger Kaffee, Kuchen und ein Schwätzchen über der Ladentheke an.

„Was ist das denn für ein komischer Laden?“ – Gieses Konzept polarisiert

Die besten Zeiten erlebte der Kiosk laut Giese unter der Besitzerin Cecilia Maurer in den Wirtschaftswunderjahren, er selbst übernahm von Familie Fischer. Alte Einbauten hinter der Theke stammen noch original aus den 1950ern, wie der Terrazzo-Steinbelag auf dem Boden. Vor der Theke hat Giese einen Stammtisch eingerichtet, orangefarbenes Kunststofffurnier mit Holzmaserung, dahinter eine gepolsterte Sitzbank. Mit seinem individuellen Konzept hat sich der Neig’schmeckte im beschaulich-bürgerlichen Kemnat allerdings nicht nur Freunde verschafft. „Letztens kam ein alter Mann, um sich zu beschweren, was das denn hier für ein komischer Laden sei“, schildert Giese kopfschüttelnd.

Dabei interessierten sich die Kunden immer weniger für sein Sortiment aus Tageszeitungen von Bild bis zur Süddeutschen und Magazinen vom „Playboy“ bis zur „Landlust“. Gieses zweites Standbein ist deshalb die Kultur, die besonders Gäste aus dem Stuttgarter Westen anzieht. Im hinteren Teil des Ladens hat Giese eine Bühne eingerichtet. „Schlager und so sind nicht mein Ding“, sagt er. In seiner Jugend war der 60-Jährige als Punker in der Hamburger Szene um die Hafenstraße unterwegs. Heute treten bei ihm Größen wie Alexander Hacke, ehemaliges Mitglied der deutschen Avantgarde-Rockband Einstürzende Neubauten, und Timo Blunck vom NDW-Urgestein Palais Schaumburg auf. Die Rauchwaren und Magazine wolle er behalten, der Kiosk sei inzwischen aber hauptsächlich ein tolles Bühnenbild.

Das Ladengeschäft und sein Angebot

Öffnungszeiten
Täglich 9 bis 12 Uhr beziehungsweise 12.30 Uhr, montags und mittwochs bleibt der Laden nachmittags geschlossen, dienstags öffnet Giese am Nachmittag von 16 bis 18 Uhr, donnerstags bis 20 Uhr. Samstags von 9 bis 12.30 Uhr.

Café
Giese bietet Getränke und Kuchen, zu Veranstaltungen auch vorbereitete Fischstullen an. Das Brot in Bioqualität bezieht er von der Eselsmühle im Siebenmühlental. Außerdem verkauft er Imker-Honig aus der Region.

Kultur
Im HamburgSüd treten Autoren und Musiker aus der Sub- und Popkulturszene auf, am 16. Oktober ist zum Beispiel der Musiker Timo Blunck zu Gast. Am 22. November liest die Autorin Katja Kullmann aus ihrem 2025 im Hanser-Verlag erschienenen Buch „Stars“. Das Programm ist online unter www.trafikcafekemnat.de abrufbar.