„Euphorie“ ist da – die deutsche Neuauflage eines viel diskutierten Serienformats. Nachdem auf dem Filmfest München bereits die ersten drei Episoden gezeigt wurden, ist nun die komplette erste Staffel mit insgesamt acht Folgen gestartet. Lohnt sie sich?

Szenenbild aus „Euphorie“: Zwei junge Frauen stehen sich in „Euphorie“ in einem dunklen Raum gegenüber und blicken sich intensiv in die Augen

Bildnachweis: © RTL / Zeitsprung

Wenn von Jugenddramen im Fernsehen die Rede ist, fällt seit einigen Jahren unweigerlich ein Titel: „Euphoria“. Die US-Serie von HBO hat mit ihrer kompromisslosen Darstellung von Abhängigkeit, Identitätssuche und jugendlichem Aufbegehren Maßstäbe gesetzt und eine weltweite Debatte über die Darstellung einer ganzen Generation ausgelöst. Weniger bekannt ist, dass dieses Format ursprünglich aus Israel stammt und dort bereits 2012 entwickelt wurde, bevor es in Amerika seinen großen Durchbruch erlebte. Nun wagt sich auch Deutschland an eine Adaption: Unter dem Titel „Euphorie“ hat RTL+ gemeinsam mit Zeitsprung Pictures acht Episoden produziert, die die Konflikte und Verunsicherungen des Erwachsenwerdens in einen hiesigen Kontext verlagern. Wie schlägt sich die deutsche Neuauflage?

Darum geht es:

Nach drei Monaten in der Jugendpsychiatrie kehrt die 16-jährige Mila in ihren Alltag zurück – doch Heilung ist keine in Sicht. Die Schule tuschelt, das Sexvideo ist noch immer Thema, und die Welt fühlt sich genauso kaputt an wie vorher. Zwischen Flashbacks, Drogentrips und innerer Leere taumelt Mila in eine explosive Dreiecksbeziehung: Ali, das Mädchen aus der Klinik, ist verschwunden – und Jannis, ein aufstrebendes Talent der Filmszene, zieht sie tiefer in einen Strudel aus Exzess, Schmerz und Selbstzerstörung. Findet Mila einen Weg zurück ins Leben – oder verliert sie sich endgültig?

Die Rezension:

„Euphorie“ ist kein deutsches „Euphoria“ und will das auch nicht sein – zum Glück. Was auf dem Papier leicht als bloßer Versuch erscheinen könnte, sich an ein global erfolgreiches Konzept anzulehnen, entpuppt sich auf dem Bildschirm als durchdachte und mutige Interpretation. Die erste Staffel von „Euphorie“ war dabei durchaus ein Wagnis – und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Ein Wagnis, weil sie auf dem israelischen Original „Euphoria“ basiert, das international weitgehend unbeachtet blieb. Ein Wagnis aber vor allem, weil die gleichnamige US-Adaption mit Zendaya längst zum popkulturellen Referenzpunkt avanciert ist. Wer heute mit dem Titel „Euphorie“ antritt, muss sich zwangsläufig mit dem Überformat messen lassen. Die deutsche Variante entscheidet sich jedoch bewusst dagegen, mitzuspielen – und genau darin liegt eine ihrer größten Stärken. Und zugleich eine ihrer Grenzen. „Euphorie“ macht von Anfang an deutlich, dass es nicht um das Kopieren eines globalen Erfolgs geht, sondern um die Verortung einer bekannten Coming-of-Age-Dramaturgie im Hier und Heute eines deutschen Lebensgefühls.

Bildnachweis: © RTL / Zeitsprung / Nirén Mahajan

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Statt die US-Überästhetisierung zu imitieren, bindet die Adaption ihre Konflikte an Gelsenkirchen, an Schrebergärten statt Trailerparks, an Partys ohne High-Fashion-Attitüde, und verlagert das Zentrum vom schockhaften Absturz zur allmählichen Entgleisung: Mila ist zu Beginn keine im Drogennetz gefangene Süchtige, sondern eine Sechzehnjährige, deren Kontakt zu Drogen sich erst allmählich öffnet – ein geleaktes Sexvideo, die Nachwehen einer familiären Krebserkrankung, ein vorausgegangener Aufenthalt in der Jugendpsychiatrie nach einem mutmaßlichen Suizidversuch – mit den größer gedachten Stressoren der Gegenwart – Pandemie, Klimakrise, gesellschaftliche Verhärtungen – verschaltet wird; dieser Fokus macht die Serie weniger zum Skandalformat als zu einer Beobachtung darüber, wie Eskapismus aus Angst, Überforderung und Sinnsuche wächst. Hier soll nichts glamourös wirken. Und das tut es auch nicht. Was man sieht, ist oft roh, manchmal beklemmend und selten schön – aber stets glaubwürdig. Das gibt den behandelten Themen wie Drogenmissbrauch, Angststörungen oder jugendlichem Leistungsdruck ein anderes Gewicht als in der hochpolierten US-Version.

Die deutsche Neuauflage erzählt vom Druck des Erwachsenwerdens in einer Zeit, in der niemand so recht weiß, wie die Zukunft aussehen soll. Und sie macht dabei nicht den Fehler, die Jugendlichen bloß als Opfer zu inszenieren. Diese Jugendlichen sind keine bloßen Träger gesellschaftlicher Probleme, sondern agierende, manchmal scheiternde, oft suchende Menschen, die auf sehr persönliche Weise versuchen, mit dem inneren Chaos umzugehen – mal in Form von Eskapismus, mal durch Radikalisierung, mal durch den Versuch, irgendwie Anschluss zu finden. Doch wo der US-Serienhit den Drang zur Selbstaufgabe oft rätselhafter stehen ließ und dadurch eine fiebrige Unruhe erzeugte, ordnet die deutsche Adaption die Affekte stärker – plausibel, manchmal auch demonstrativ – riskiert dabei jedoch, stellenweise zu erklärend zu sein. Die Drehbücher – entwickelt um Head-Autor Jonas Lindt und inszeniert vom Regieduo André Szardenings und Antonia Leyla Schmidt – schaffen eine Erzählweise, die mit der Widersprüchlichkeit spielt: Milas Zärtlichkeit existiert neben ihrer Wut, ihr Humor neben Kontrollverlust, ihre Sehnsucht nach Verbindung neben der Flucht in Betäubung.

Bildnachweis: © RTL / Zeitsprung

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Diese Ambivalenzen tragen die Serie, vor allem, weil Derya Akyol Mila nicht als plakativen Fall spielt, sondern als Körper im Konflikt; ihre Präsenz ist ungekünstelt, oft physisch und dabei verletzlich. Milas Weg ist kein Fallbeispiel, sondern eine Bewegung mit Rückkoppelschleifen, in der Nähe und Distanz, Trotz und Scham, Selbstverachtung und Sehnsucht eng beieinanderliegen. Dass „Euphorie“ eine spürbare Sogkraft aufbaut, liegt zentral an Derya Akyol. Inszenatorisch wählt „Euphorie“ einen Hyperrealismus, der laufend Distanz und Nähe verschaltet: Die Kamera ist selten statisch, große Fahrten und scharfe Rhythmuswechsel erzeugen eine eigenwillige Energie, während Milas Voice-over den Blick erdet, erklärt, konterkariert, manchmal fast allwissend sortiert und damit eine Leitspur durch das Gefühlschaos legt.

Dabei ist die Erzählweise alles andere als konventionell: Wenn Mila die vierte Wand durchbricht und ein Scheinwerfer die Szene für einen Moment fast wie in ein Bühnenbild verwandelt, entsteht eine besondere Intensität, die in gewisser Weise an Bertolt Brechts episches Theater erinnert, das darauf zielte, das Publikum nicht in Illusionen zu wiegen, sondern durch Verfremdungseffekte zum kritischen Nachdenken zu bewegen. Statt die Zuschauenden passiv mitleiden zu lassen, wird ihre Rolle neu definiert: Das Publikum soll nicht bloß mitfühlen, sondern mitdenken. Gerade in dieser Serie funktioniert diese Brechtsche Technik, weil sie den Abstand zwischen Fiktion und Realität nicht verwischt, sondern offenlegt. Das Risiko dieser Methode liegt allerdings in der Überlagerung – nicht jede Szene profitiert davon, unterbrochen oder kommentiert zu werden. Die Inszenierung bleibt insgesamt nah an ihren Figuren, ohne in Pathos oder Voyeurismus zu verfallen.

Dass die Serie insgesamt auf Schockbilder als Selbstzweck verzichtet, ist ein Qualitätsmerkmal – und zugleich eine strategische Entscheidung gegen den einfachen Buzz. Die Kehrseite: Die Serie verzichtet auf die fiebrig-viralen Spitzen, an denen die US-Version ihre Gesprächswucht entfaltete. „Euphorie“ ist konsequent ernsthafter und – im besten Sinn – unglamourös. Inhaltlich legt die Serie dabei eine klare These: Eskapismus ist weniger Attitüde als Überlebensstrategie. So bilden soziale Medien und Reality-Formate hier auch reale Fluchtventile – das ist inhaltlich stimmig –, verwebt aber zugleich sichtbar den Senderkosmos. „Euphorie“ integriert RTL-Formate, zitiert die eigene Nachrichtenwelt und schafft wiederholt subtile wie weniger subtile Querverweise zur Senderidentität. Ob durch eingeblendete Ausschnitte des tatsächlichen RTL-Magazins „Punkt 12“, die Integration von Reality-Stars aus hauseigenen Formaten oder die Darstellung medialer Aufmerksamkeit als sozialer Aufstiegstraum – immer wieder durchzieht die Serie ein metamedialer Subtext, der deutlich macht, dass hier auch ein Streaming-Angebot beworben wird.

Bildnachweis: © RTL / Zeitsprung

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Dass ausgerechnet in der deutschen Version Reality-TV eine derart prominente Rolle im Wertehorizont der Figuren spielt, wirkt dabei weniger wie ein kultureller Zufall als vielmehr wie ein gezielter Verweis auf die DNA des Senders. Die Serie inszeniert also nicht nur das Lebensgefühl einer entwurzelten Jugend, sondern auch – subtil, aber konsequent – ein mediales Ökosystem, das seine neuen Zuschauenden gleich mit an sich binden will. Dramaturgisch funktioniert das als Verankerung in einer wiedererkennbaren Medienumgebung; ökonomisch ist es nachvollziehbar. Manchmal kippt die Balance jedoch in Richtung Eigenwerbung und reißt kurz an der Illusion. Wie schon beim US-Serienhit spielt die musikalische Untermalung auch hier eine große Rolle. Der Soundtrack reicht von Retro-Hits der Achtziger und Neunziger bis zu aktuellem Hip-Hop, nahezu jede Szene ist musikalisch unterlegt.

Der Soundtrack spannt den Bogen von Alphaville bis Deutschrap und legt sich in fast jeder Szene wie ein zweiter Erzähler über das Bild. Mal treibend, mal melancholisch – oft pointiert eingesetzt, gelegentlich zu dominant. Das erzeugt Atmosphäre und Rhythmus, nimmt aber in einzelnen Momenten den Mut zur Stille, der innere Bewegungen noch deutlicher machen könnte. Denn „Euphorie“ ist in den stillen Kollisionen am stärksten: im Blick, der länger dauert, als es bequem ist; im Satz, der von Scham gebremst wird; im Versuch, Nähe herzustellen, obwohl die Hand zittert. Besonders trägt die Staffel deshalb dort, wo sie ihre Figuren ernst nimmt. Diversität wird hier als Selbstverständlichkeit erzählt, nicht als pädagogischer Programmpunkt. Zwar scheint die Serie zunächst auf bekannte Jugendserien-Klischees zu setzen, doch die schauspielerische Umsetzung unterläuft diese Erwartungshaltung gezielt. Besonders bemerkenswert ist, dass die Serie migrantisch geprägte Lebensrealitäten zeigt, ohne in stereotype Zuschreibungen zu verfallen – ein Balanceakt, den viele vergleichbare Formate verfehlen.

Bildnachweis: © RTL / Zeitsprung

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Statt auf Starpower verlässt sich die Serie auf Inhalt und Ensemble. Gerade dieser Verzicht auf bereits etablierte Bekanntheiten ermöglicht ein realistischeres, unvoreingenommeneres Eintauchen in die Geschichte. Es ist das Zusammenspiel aus Casting, Rollenkonzeption und Performance, das „Euphorie“ über konventionelle Formate hinaushebt – und zugleich deutlich macht, wie sehr deutsche Titel davon profitieren können, junge Talente in tragende Rollen zu lassen, selbst wenn nicht jeder Besetzungsentscheid gleich stimmig ist. Denn bei manchen jugendlichen Rollen liegt das wahrgenommene Alter der Darstellenden doch sehr deutlich über dem behaupteten Rollenalter. Immersion ist im Jugenddrama eine fragile Ressource, und an diesen Stellen knarzt es. Zudem ist der Preis der Fülle an Figuren, dass nicht jeder Handlungsbogen und Charakter die gleiche Tiefe erreicht; doch die Stärke ist davon gleichermaßen, dass die Serie Jugend nicht als Einzelschicksale, sondern als Geflecht aus Beziehungen, Missverständnissen und Momenten beschreibt.

Fazit:

„Euphorie“ ist eine ambitionierte, bildstarke und inhaltlich überaus relevante Serie, die sich nicht scheut, große Themen anzupacken – und diese weder in Pathos noch in Klischees ertränkt. Sie erzählt nicht nur von Jugendlichen, sondern vor allem vom Zustand der Gegenwart – und trifft dabei einen Ton, der selten ist: scharf, ehrlich und unbequem. Wer nach einer Serie sucht, die den Zeitgeist nicht nur reproduziert, sondern genau hinsieht, wird hier fündig – und bleibt dank des stark aufspielenden Ensembles rund um Derya Akyol auch nicht unberührt zurück.

>>> STARTTERMIN: Ab dem 03. August 2025 auf Netflix.

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Weitere Informationen zu „Euphorie“:

Genre: Drama, Coming-Of-Age

Altersfreigabe: ab 16 Jahren

Regie: André Szardenings und Antonia Leyla Schmidt

Drehbuch: Jonas Lindt, Raquel Kishori Dukpa, Paulina Lorenz und Antonia Leyla Schmidt

Besetzung: Derya Akyol, Eren M. Güvercin, Denis Schmidt und viele mehr …

Trailer zur 1. Staffel von „Euphorie“: