Sachsen/Hannover. Deutschland ist seit 35 Jahren wiedervereint, doch die Unterteilung in Ost- und Westdeutschland bleibt – auch bei der jungen Generation. „Ostdeutsch“ – so betiteln sich immer mehr Jugendliche mit Stolz, die aus den neuen Bundesländern kommen. Doch was heißt das überhaupt?
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Sechs Männer und Frauen der Gen Z erzählen, wie sie die einstige Trennung Deutschlands noch heute begleitet. Was sie mit „ostdeutsch“ verbinden. Und welche Klischees daran haften.
Patrick Albrecht: „Von den Dorfkindern wurde erwartet: Ihr habt eine Simson“
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Das Metall glänzt rot. Nach dem zweiten Antreten schnurrt der Motor. Auf der Maschine sitzt Patrick Albrecht, 24 Jahre alt und Bürgermeister seiner Heimatstadt Gößnitz in Thüringen – der jüngste Mensch in Deutschland in diesem Amt.
„Viele meiner Klassenkameraden sind in die größeren Städte gegangen – oft in den Westen.“ Doch weg wollte Patrick nie. „Ich bin schon ein bisschen ostdeutsch“, sagt er und lacht.
Eine große Rolle spielen dabei für ihn die DDR-Mopeds. „Wenn man 15 oder 16 Jahre alt ist, dann fährt man die Dinger. Das Kultfahrzeug schlechthin.“ Für viele Jugendliche war die „Simme“ das erste motorbetriebene Fahrzeug. „Das war ein großes Freiheitsgefühl“, erinnert sich der 24-Jährige. „Vor allem von den Dorfkindern wurde erwartet: Ihr habt eine Simson in der Garage stehen, keinen Plastikroller.“ Patricks Simson ist ein Erbstück, sein Vater habe sie damals eingetauscht, gegen Bier. Ein Tauschgeschäft; Alltag in der DDR.
Mein Vater hat die damals eingetauscht, gegen Bier.
Patrick Albrecht,
über seine Simson S 51
„Das war früher ausschlaggebend“, erinnert sich der junge Bürgermeister: „Ich hab ne Simme. Ich komme aus dem Osten. Ossis sind cool.“ Heute sieht er das differenzierter. „Man sollte trotzdem weltoffen sein.“ In Clubs und auf Dorffesten beobachtet er einen Trend: Viele Jugendliche würden sich als Ossis feiern. Gefährlich wirke das nicht, findet Patrick. „Ich weiß nur nicht, ob das noch angebracht ist. 35 Jahre nach der Wende. Aber das sind oft 17-, oder 18-Jährige, die Mädels beeindrucken wollen“, sagt er. Zu seinem 18. Geburtstag habe er damals auch einen Hut mit Aufschrift „Ostdeutschland“ bekommen.
Eigentlich möge er die Ost-West-Trennung nicht. „Ich wünsche mir, dass die Differenzen verschwinden“, sagt der 24-Jährige. Den Ostdeutschland-Hut trage er mittlerweile nicht mehr.
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Lena Martin: „Ich bin auf jeden Fall ostdeutsch“
Entspannt sitzt Lena Martin auf ihrem braunen Sofa in ihrer Wohnung in Leipzig. „Ich bin auf jeden Fall ostdeutsch“, sagt die gebürtige Erzgebirgerin selbstbewusst. Den ersten Bezug zum Ostdeutschsein habe sie durch ihre Eltern wahrgenommen, die in der ehemaligen DDR aufgewachsen sind. „Dieser DDR-Bezug ist der Hauptpunkt, den ostdeutsche Identität für mich ausmacht, auch, wenn es mich selbst nicht betrifft“. Phrasen wie „vor der Wende“ oder „zu Ostzeiten“, sind in Lenas Familie immer wieder gefallen. Das Gefühl ostdeutsch zu sein habe die 25-Jährige immer mehr gespürt, umso älter sie wurde, „wenn man die Heimat verlässt und mit Unterschieden konfrontiert wird“.
„Sind wir noch Ossis?“
Mit dieser Frage hat sich der aktuelle Jahrgang der Volontäre und Volontärinnen der Leipziger Volkszeitung beschäftigt. Junge Menschen der Generation Z, die etwa zwischen den Jahren 1995 und 2010 geboren wurden, erzählen im Video, welcher Einfluss „der Osten“ in ihrem persönlichen Umfeld hat.
Lena wurde in Freiberg im Erzgebirge geboren und ist für ihr Studium vor sechs Jahren nach Leipzig gezogen. „Ich wusste, ich wollte was mit Medien studieren und das geht dann eigentlich nur außerhalb der Heimat.“ In Leipzig hat sie viele Freunde, die aus den westdeutschen Bundesländern kommen. In Gesprächen mit ihnen fallen Unterschiede auf, die eher banal erscheinen, wie die Eierschecke, die Lena gerne isst und ihre westdeutschen Freunde nicht kannten. „Ich habe nie darüber nachgedacht, dass das etwas spezifisch Ostdeutsches ist.“
Dass viele ihrer Bekannten nicht aus dem Osten kommen, spiele für sie keine Rolle. „Wenn man jemanden kennenlernt, dann begegnet man sich auf der persönlichen Ebene. Ob du aus Ost- oder Westdeutschland kommst, ist egal. Ich bin mir der Unterschiede bewusst. Aber das hat in meinen persönlichen Beziehungen weniger eine Bedeutung als im Gesamtgefühl in der Gesellschaft.“
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Josefine Velde: „Wir haben den sächsischen Dialekt abgelegt“
Josefine Velde erinnert sich noch gut an die Grundschullehrerin, die sie und ihre Schwester für ihr sauberes Hochdeutsch gelobt hat. „Ich habe schon in frühester Kindheit verstanden: Sächsisch sollte man ablegen”, erzählt Josefine. Dabei schaut sie nachdenklich aus dem Küchenfenster ihrer Altbauwohnung in der Dresdener Neustadt. „Warum hat die uns überhaupt gelobt? Das ist absurd.“
Zu Schulzeiten hat die heute 28-Jährige häufig beobachtet, „dass sächselnde Kinder probiert haben, diesen Dialekt zu vermeiden“ Denn ihr katholisches Gymnasium wurde auch von Jugendlichen besucht, deren Eltern westdeutsch waren. Die sprachen dialektfrei, und die anderen passten sich an. Inzwischen findet Josefine das schade. Auch bei sich selbst: „Man merkt, dass ich es jetzt nur nachahme. Es klingt nicht authentisch.“
Ich habe schon in frühester Kindheit verstanden: Sächsisch sollte man ablegen.
Josefine Velde
kommt aus Dresden
Während ihres Studiums in Hamburg führte die angehende Energietechnikerin immer wieder Gespräche mit Kommilitonen über Ost- und Westdeutschland und die DDR-Vergangenheit ihrer Familie. Besonders häufig fragte man sie nach einem bestimmten Thema: die rechtsextreme und islamfeindliche Bewegung Pegida. Plötzlich wurde ihre Heimat mit einer Bewegung assoziiert, die sie nicht vertrat – und für die sie sich rechtfertigen musste. „Pegida stand für ein Sachsen, das ich so vorher nicht wahrgenommen habe“, erzählt die gebürtige Dresdnerin. „Es war zum Verzweifeln.“
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Trotz dieses Beigeschmacks möchte sie sich nicht vom Begriff „ostdeutsch“ abgrenzen. „Es ist meine Identität, die ich mir über die Zeit zurückgeholt hab“, erklärt sie. Dafür führt sie ein Beispiel an: Wenn sie heute auf ihre Herkunft und Aussprache angesprochen wird, entgegnet Josefine, wie schön sie den Dialekt findet. „Damit die Leute gar nicht erst kommentieren: Haha, Sächsisch.“
Lio Micholka: „Ich will meine Identität nicht über meinen Herkunftsort definieren“
„Das ist ein Stück Teenager-Geschichte.“ Lio Micholka blickt auf die blaue CD in seinen Händen. Ein Album von Felix Kummer, dem Frontsänger der Rockband Kraftklub. „Die hab ich mit 14 angefangen zu hören“, erinnert sich der 22-Jährige. „Das waren Liedtexte, die mich gestärkt haben.“
Lio stammt aus einem 100-Leute-Ort nahe Leipzig. Heute studiert er in Hannover, sitzt auf seinem Gartenstuhl im Hinterhof. „Ich war ein Dorfkind“, erzählt er. Lange Fahrtwege, wenige Partys und das Gefühl, abgehängt worden zu sein. Aber auch Begegnungen mit Rechtsradikalismus. „Es war normal, dass rechtsextreme Symbolik in Schultische geritzt wurde und das Lehrpersonal das ignorierte.“
Für einen Gegenentwurf sorgte Kraftklub. „Sie haben gezeigt: Mein Heimatort hat auch coole Sachen zu bieten.“ Als ostdeutsch bezeichnet Lio sich nicht. „Ich will meine Identität nicht über meine Herkunft definieren. Auch wenn ich nicht leugnen kann, dass sie mich geprägt hat“, erläutert der Student. Seinen Dialekt hat er seit der Oberstufe aus Scham abgelegt: „Ich hatte das Gefühl, dass Sächseln dumm wirkt.“ Vor allem bei Besuchen im Westen sei es ihm peinlich gewesen.
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Doch seine Vergangenheit konnte er auch in Hannover nicht abschütteln. „Die Leute sind zusammengezuckt, wenn ich erzählt habe, wo ich herkomme“, sagt Lio. Hinzu kamen Klischees: Im Osten haben Lehrer einen Trabant und überall treffe man Nazis.
Trotzdem fühlt Lio sich mittlerweile wohl. Ein Verantwortungsgefühl gegenüber seiner Heimat bleibt aber. Deshalb hat er mit zwei Freunden das Außenposten Kollektiv gegründet. Ihr Ziel: Menschen aus Hannover das Leben in Sachsen nahebringen. In Form eines Magazins.
„Wir versuchen, ein positives Stück von Sachsen in den Westen zu bringen.“ Die Beteiligten interviewen Menschen aus ihrer Heimat, die etwas vor Ort bewegen. Im besten Fall für einen Lerneffekt für die Bewohner von Hannover: „Mittlerweile ist die rechtsextreme Szene nicht nur ein Ostproblem“, erklärt er. „Was können wir in Hannover von Sachsen lernen?“ Perspektivisch will Lio nach seinem Studium zurück in seine Heimat. Um selbst mitzugestalten. Und sich dem sächsischen Dialekt wieder anzunähern.
Mustafa Alizada: „Die Menschen sind verschlossener als im Westen“
Den blauen Ornament-Teppich hat ihm ein Freund aus dem Iran mitgemacht, der graue Perser-Kater war ein Geschenk – Mustafa Alizada nennt ihn liebevoll seinen Mitbewohner. Er war 13 Jahre alt, als er 2015 in Sachsen ankam. Mustafa stammt aus Afghanistan. Nun lebt er in Leipzig.
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Aktuell macht der 23-Jährige eine Ausbildung zum Immobilienmakler. Wo Leipzig liegt, wusste Mustafa vor der Flucht nicht. „Wir wurden hierhergeschickt. Und ich bin sehr zufrieden, dass ich hier gelandet bin“, sagt er. Heute sagt er über sich: „Ich bin Ostdeutscher.“
Aber nicht immer fühlt er sich heimisch, auch Rassismus verbindet er mit Ostdeutschland. Die ersten Erfahrungen machte Mustafa in Machern, wo er zuerst lebte. „Da waren wir die einzigen Ausländer im ganzen Dorf“, beschreibt er. Auf einem Stadtfest wurde er mit einem Freund von einer größeren Gruppe angegriffen. „Sie haben mein Auge verletzt und uns verfolgt, als wir weggerannt sind.“ Sie retteten sich in einen Krankenwagen auf dem Stadtfest, die Gruppe lauerte ihnen davor auf und drohte ihnen.
Die Menschen sind verschlossener als im Westen.
Mustafa Alizada
wohnt seit 10 Jahren in Deutschland
Damals war er erst zwei Jahre in Deutschland. Körperliche Gewalt hat er seither nicht noch einmal erlebt. Manchmal kassiere er aber Sprüche in der Straßenbahn, wenn er sich mit Freunden auf seiner Muttersprache unterhalte. Mustafa versteht nicht, wieso sich andere daran stören. Über die Ostdeutschen sagt er: „Die Menschen sind verschlossener als im Westen.“ Mit Migrationshintergrund sei es hier schwerer, Kontakte zu knüpfen.
Mustafa kennt viele andere große deutsche Städte im Westen. Er hat einen Freund in Köln, der mit ihm aus Afghanistan geflohen ist. „Wenn ich mit ihm spreche: Großartig Rassismus oder Diskriminierung hat er nicht erlebt“, erzählt Mustafa.
Ein Grund, Ostdeutschland den Rücken zu kehren? „Eigentlich ist Leipzig mein Zuhause, ich kann mir nur schwer vorstellen, in eine andere Stadt zu ziehen. Aber wenn ich irgendwann Kinder haben werde, möchte ich gerne in einer Stadt leben, wo es keine Diskriminierung gibt, wo meinem Kind nicht später in der Schule und Kita gesagt wird, dass es Ausländer ist.“ Lieber will er aber hier bleiben, am Wandel Leipzigs mitwirken und Arbeitsplätze schaffen. „Ich hoffe es wird immer besser hier. Leipzig ist mein Zuhause.“
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Tom Mahler: „Ostdeutsch zu sein, bedeutet weniger Chancen im Leben zu haben“
Tomaten gießen, Zucchini ernten, Holzreste verarbeiten. Für Tom Mahler eine Selbstverständlichkeit: „Früher als Kind habe ich im Garten Selbstversorger gespielt”. Jetzt bewirtschaftet der 24-Jährige den Schrebergarten seiner Eltern. „Das ist schon etwas typisch Ostdeutsches“ findet er.
Tom ist in Markranstädt, später dann in Leipzig aufgewachsen. „Da ich schon immer hier lebe, bin ich natürlich im Osten sozialisiert“, sagt er. Für ihn heißt das: Pünktlich sein, sich an Regeln halten und sparsam zu leben. „Ich schmeiße kein Geld zum Fenster raus“, betont Tom. Wenn etwas kaputt geht, werde es repariert – nicht neu gekauft. Der Leipziger zeigt auf einen Holzstapel im Schrebergarten. „Daraus will ich einen Tisch bauen“, erklärt er.
Seine nachhaltige, sparsame Lebensart habe Mahler von klein auf von seinen Eltern vermittelt bekommen: „Ostdeutsche Werte“, wie er findet. Obwohl er diese bis heute auslebt, will er seine Herkunft nicht zu seiner Identität machen. „Ich brüste mich nicht damit, aus den neuen Bundesländern zu kommen“, so Tom. Grund dafür seien auch die Vorurteile: „Es heißt oft, im Osten seien alle rechts, obwohl das nicht stimmt“.
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Tom macht deutlich: „Nur weil ich hierher komme, bin ich nicht besser oder schlechter als jemand aus dem Westen“. Doch der Gärtner-Azubi weiß, dass Ostidentität häufig stigmatisiert wird. Früher habe sein Umfeld ihm vermittelt, dass er wahrscheinlich weniger Chancen im Leben haben werde als Jugendliche in Westdeutschland. „Es gibt in den Köpfen der Gesellschaft immer noch eine Trennung zwischen den alten und neuen Bundesländern”, bedauert Tom. Er ist der Ansicht: „Wir sind alle doch gar nicht so unterschiedlich.“
LVZ