Getty Images

Big Pharma hat genug von Großbritannien: Strenge Kostenvorgaben und die US-Politik belasten die Arzneimittelhersteller, immer häufiger ziehen sie sich von Investitionen zurück.

Endlich eine gute Nachricht für die britische Pharma-Branche. Zu keinem Zeitpunkt habe Moderna erwogen, Investitionen in Großbritannien zu kürzen, versicherte Stéphane Bancel, Vorstandschef des US-amerikanischen Biotech-Unternehmens Ende September bei der Eröffnung eines neuen Forschungszentrums.

Die Moderna-Labore in Oxfordshire mit einem Schwerpunkt auf der Entwicklung von Impfstoffen sind Teil einer zehn Jahre laufenden strategischen Partnerschaft mit der britischen Regierung, die der Konzern vor drei Jahren angekündigt hatte. Dazu gehört die Zusage, 1 Milliarde Pfund (1,14 Milliarden Euro) in Forschung und Entwicklung zu investieren, einschließlich umfangreicher klinischer Studien.

Lest auch


8 Pharma-Aktien, die enormes Potenzial haben, laut einem ETF-Experten

Große Teile von Big Pharma scheinen dagegen das Interesse am Standort Großbritannien verloren zu haben. AstraZeneca, Eli Lilly und Merck haben in den vergangenen Wochen allesamt Großinvestitionen im Land abgesagt oder auf Eis gelegt. Eli-Lilly-Chef Dave Ricks hat noch einmal nachgetreten. Großbritannien sei „wahrscheinlich das schlechteste Land in Europa“, wenn es um Arzneimittelpreise gehe, sagte er der „Financial Times“. Das Land zahle deutlich weniger für Medikamente als andere westliche Staaten. Und er warnte direkt: „Wenn sich das nicht ändert, werden [die Briten] nicht viele neue Arzneimittel sehen – und auch nicht viele Investitionen.“

Lange galt Großbritannien als ausgesprochen attraktiver Standort für die Pharmaforschung, nicht zuletzt wegen der umfangreichen Patientendaten, über die der steuerfinanzierte staatliche Gesundheitsdienst National Health Service (NHS) verfügt. Hinzu kommen gut ausgebildete Wissenschaftler und eine florierende Start-up-Kultur, unter anderem rund um die renommierten Universitäten in Oxford und Cambridge.

Mit GSK und AstraZeneca kann das Land auch noch zwei heimische Pharma-Größen vorweisen. Doch eine Mischung aus Sparanstrengungen der Regierung, festgefahrenen Verhandlungen mit den Pharmakonzernen und Investitions- und Preisdruck aus den USA haben dem Pharmastandort erheblich zugesetzt. Für die Regierung steht viel auf dem Spiel, sollte das Interesse am Standort dauerhaft schwächeln. In der im Sommer veröffentlichten Industriestrategie für das Land spielt der Ausbau von Life Sciences eine Schlüsselrolle als Wachstumstreiber. 

Umso mehr haben die Nachrichten der vergangenen Wochen das Land aufgeschreckt. Anfang September hat Merck die Investitionen in ein Forschungszentrum in London gestrichen. Insgesamt 1 Milliarde Pfund waren vorgesehen, die Labors in Kings Cross im Norden Londons sind mitten im Bau, die Eröffnung war für 2027 geplant. Mehr als 100 wissenschaftliche Mitarbeiter verlieren ihren Job. Die britische Regierung investiere nicht genug in den Sektor, ließ das Unternehmen wissen.

AstraZeneca und Eli Lilly stoppen Investitionen

Wenige Tage später legte AstraZeneca seine Pläne für ein 200 Millionen Pfund schweres Forschungszentrum nahe der Konzernzentrale in Cambridge auf Eis. Bereits zum Jahresanfang hatte das Unternehmen eine Kehrtwende bei einem geplanten Standort für die Impfstoffproduktion. Die Investition bei Liverpool wurde ebenfalls gestrichen. Auch Eli Lilly hat sich von Investitionsplänen im Land verabschiedet; um mehr als 250 Millionen Pfund für einen Inkubator für Biotech-Unternehmen ging es dabei.

Inzwischen hat Patrick Vallance, Staatsminister für Wissenschaft, eingeräumt, dass sich etwas ändern müsse. Das Land wird mehr für Medikamente ausgeben müssen, um die Pharmaunternehmen zurückzugewinnen. Das wirtschaftliche Umfeld müsse wieder attraktiv für die Konzerne gestaltet werden, um so sicherzustellen, dass ihre Aktivitäten den Patienten im NHS zugutekommen, sagte der studierte Pharmakologe, der selbst einige Jahre die Forschung bei GSK geleitet hat. „Das bedeutet wahrscheinlich, dass wir für einige Medikamente ein wenig mehr bezahlen müssen.“

Pharmakonzerne sind zunehmend frustriert von den knappen Finanzregeln des britischen Gesundheitssystems. Zum einen sind es die strikten Vorgaben, was NHS England für verschreibungspflichtige Medikamente ausgeben darf. In den Landesteilen Schottland, Wales und Nordirland gelten andere Regeln. Aufgrund einer Vereinbarung zur Begrenzung der Ausgaben für Markenmedikamente mussten Pharmakonzerne im vergangenen Jahr eine Art Rückforderungssteuer in Höhe von 23 Prozent ihrer Umsätze mit neueren Arzneien zahlen. Das ist das Vierfache eines ähnlichen Modells in Frankreich. 

Zum anderen schränken Preis-Leistungs-Regeln laut der Branche den Zugang zu neuen Therapien erheblich ein. Vor ihrer Zulassung werden neue Medikamente vom National Institute for Health and Care Excellence (NICE) geprüft. Die Schwellenwerte zu Kosten und Nutzen, die dabei zugrunde liegen, wurden seit 1999 nicht angepasst. Enhertu, ein Brustkrebsmedikament von Astra Zeneca, das in Schottland und vielen europäischen Ländern verfügbar ist, wurde im vergangenen Jahr abgelehnt.

Beide Entwicklungen haben laut Berechnungen des Pharmaverbandes dazu geführt, dass auf Medikamente nur noch neun Prozent der Gesundheitsausgaben im Land entfallen. In Frankreich sind es 15 Prozent, in Deutschland und Italien 17 Prozent.

Nicht nur bei Investitionen in Forschung und Entwicklung ist Großbritannien in den vergangenen Jahren abgerutscht. Im weltweiten Ranking für klinische Studien in der Spätphase war das Vereinigte Königreich zwischenzeitlich vom vierten auf den zehnten Platz abgerutscht. Inzwischen hat es sich wieder auf Rang acht hochgearbeitet. Doch Pharmavertreter warnen, dass die geplanten Maßnahmen für eine Verkürzung der Vorlaufzeiten von Studien nur funktionieren, wenn die Standards in der Patientenversorgung erstklassig sind. Andernfalls werde die Attraktivität für klinische Studien weiter leiden.

AstraZeneca geht an die NYSE

Auch bei den Planungen der Unternehmen für die Einführung neuer Medikamente rutscht das Land nach hinten. Vallance hat nun Bereitschaft signalisiert, die im Sommer erfolglos abgebrochenen Verhandlungen mit den Pharmakonzernen zu den Preisen, die der NHS zahlen kann, wieder aufzunehmen. 

Lest auch


Was die Pharmaindustrie aus Online-Foren lernen kann

Doch längst nicht alle Schwierigkeiten, die die Branche mit Großbritannien hat, sind hausgemacht. US-Präsident Donald Trump drängt Pharmakonzerne seit Monaten, verstärkt im einheimischen Markt zu investieren. Die vor kurzem angekündigten Einfuhrzölle auf Medikamente und Pharma-Produkte sollen auch davon abhängig werden, ob ein Hersteller schon im US-Markt produziert oder eine Fertigung in Vorbereitung hat. 

Um noch näher an den großen US-Markt zu rücken, den wichtigsten für den Konzern, hat AstraZeneca vor wenigen Tagen angekündigt, seine Aktien zusätzlich zur Londoner Börse auch direkt an der New York Stock Exchange zu notieren. So will der nach Marktkapitalisierung zweitgrößte britische Konzern noch mehr US-Anleger locken. Bisher war ein Investment an einer US-Börse nur über American Depositary Receipts möglich,  handelbare Zertifikate, die den Anspruch auf die Aktien verbriefen.

Nicht nur auf Investitionen drängt Trump. Er will auch eine kräftige Senkung der Arzneimittelpreise in den USA durchsetzen. 17 Pharma-Unternehmen hat das Weiße Haus im Juli aufgefordert, verbindlich zuzusichern, dass sie die Preise ihrer Medikamente in den Vereinigten Staaten an die niedrigsten Kosten für die Arznei in einem Industrieland anpassen. 

Das US-amerikanische Pharmaunternehmen Bristol Myers Squibb (BMS) plant nun zum ersten Mal, ein neues Medikament zum gleichen Preis in Großbritannien einzuführen wie in den USA. Auf 22.500 US-Dollar (19.182 Euro) hat BMS die jährlichen Kosten für Cobenfy, eine neuartige Therapie bei Schizophrenie, angesetzt. Lasse sich das nicht durchsetzen, werde Cobenfy nicht auf der Insel angeboten, hat das Management direkt gedroht.

Trump hat die Abnehmspritzen im Visier

Deutlich mehr müssen Briten inzwischen schon für die Abnehmspritze Mounjaro von Eli Lilly zahlen. Anfang September hat der Konzern die Preise für Privatzahler für die höchstdosierte Version um 170 Prozent auf 330 Pfund für eine Monatsration angehoben. Patienten, die das Medikament im NHS verschrieben bekommen, sind von der Preiserhöhung nicht betroffen.

Medikamente zur Gewichtsreduzierung und die Preisunterschiede dafür sind seit Wochen besonders im Visier von Trump. Gerne verweist er dabei darauf, dass das „Medikament für Dicke“ in den USA mehr als 1.000 US-Dollar kostet. „Ich habe viele Freunde. Die sind fett“, sagte Trump. „Sie zahlen 1.200, 1.300 Dollar, und dann reisen sie nach London und zahlen 88 Dollar. Wir subventionieren den Rest der Welt.“