Der Mann, der zum Schweigen aufgerufen hat, erhebt doch die Stimme. Stefan Jakob Wimmer steigt an diesem verregneten Sonntagabend auf den Sockel einer Laterne direkt vor der Feldherrnhalle auf dem Münchner Odeonsplatz, von dem aus er die Menge aus etwa 250 Menschen überblickt.
Die meisten von ihnen halten Kerzen, Leuchten oder Fahrradlichter in den Händen. Gemeinsam, ruft Wimmer sehr bedächtig, wolle man sich nun auf den Weg machen: „Mit der Bereitschaft zu schweigen.“ Und dem Ziel, den „sehr eindeutigen Lager-Sondierungen“ etwas entgegenzusetzen. Dann steigt er herab und führt den leisen Marsch über die Ludwigstraße an.
Die Freunde Abrahams München haben zum dritten Mal aus Anlass des Terrorangriffs der Hamas auf Israel zum Schweigemarsch durch die Münchner Innenstadt aufgerufen. „Nur miteinander gehen und schweigen.“ Mit diesem Motto hat die Gesellschaft für religionsgeschichtliche Forschung und interreligiösen Dialog, deren Vorsitzender Wimmer ist, die Demonstration angekündigt. Keine Schilder, keine Ansprachen, nur Lichter und Kerzen – damit wollen sie ihre Fassungslosigkeit über die vielen Opfer in Israel, Palästina und anderen von Gewalt und Krieg betroffenen Regionen der Welt zum Ausdruck bringen.
Demonstration auf dem Königsplatz
:Fünf-Punkte-Plan gegen Antisemitismus
Bei einer Kundgebung auf dem Königsplatz bilden mehrere Tausend Menschen ein „Dach gegen Hass“. Die Redner wollen jüdisches Leben sichtbarer machen und stärker schützen. Eine entsprechende Petition hat bereits 30 000 Unterstützer gefunden.
Monika Schön ist mit einer Freundin auf den Odeonsplatz gekommen, beide Frauen halten Kerzen in ihren Händen; sie sind dick eingepackt, tragen Schals und Handschuhe. Sie habe aus der Presse von dem geplanten Lichterweg erfahren und spontan entschieden, daran teilzunehmen, sagt Schön. „Mich treibt einfach diese ganze Gewalt um. Vom 7. Oktober und danach in Gaza“, sagt die Münchnerin mit Blick auf den Terrorangriff der Hamas von vor zwei Jahren und die folgende Offensive Israels in dem palästinensischen Küstenstreifen. „Es hat mich einfach sehr angesprochen, dass man nicht mit Worten darauf aufmerksam macht, sondern mit Schweigen.“
Diesem Antrieb ist auch Dieter Zabel gefolgt. Auch er hält eine brennende Kerze in der Hand und blickt auf die Feldherrnhalle. „Ich finde es einfach notwendig, auf die Opfer aufmerksam zu machen. Und genauso auf die Notwendigkeit, sich zu verständigen“, sagt Zabel. Noch immer seien nach zwei Jahren nicht alle israelischen Geiseln frei, es werde immer noch Krieg geführt, der unendlich viel Leid verursache, sagt der Münchner. Beide Seiten des Konfliktes müssten betrachtet werden, findet er. Die Opfer des Terroraktes ebenso wie die Bevölkerung in Gaza, die durch Hunger bedroht werde.
Schweigend zieht die Demonstration durch München. (Foto: Martin Mühlfenzl)
Mit Stefan Jakob Wimmer an der Spitze setzt sich der Schweigemarsch schließlich in Bewegung. Zwei Polizeifahrzeuge fahren dem Tross in Schrittgeschwindigkeit voraus. Die Stille auf der halbseitig gesperrten Ludwigstraße ist greifbar. Die Kreuzung mit dem Oskar-von-Miller-Ring haben Beamte abgeriegelt, die Fahrzeuge dahinter, die auf die Ludwigstraße abbiegen wollen, müssen warten. Dann biegen die schweigenden Demonstranten nach rechts auf die Von-der-Tann-Straße ab. Die Kreuzung mit der Prinzregentenstraße haben ebenfalls Polizeibeamte abgesperrt. Auf der Prachtstraße zieht der Tross auf der rechten Spur weiter Richtung Luitpoldbrücke, während der Verkehr stadtein- und auswärts an ihnen vorbeirauscht.
Vor dem Brunnen an der Luitpold-Terrasse legen die Demonstrationsteilnehmer Kerzen nieder. (Foto: Catherina Hess)
An der Kreuzung mit der Widenmayerstraße müssen sich Autofahrer ebenfalls gedulden, Protest regt sich aber von keinem der Fahrer. Kurz vor dem Friedensengel muss sogar ein Linienbus hinter dem Schweigemarsch so lange warten, bis die Menge die Straße zur Luitpold-Terrasse gequert hat.
Dort stoppt der Schweigemarsch. Wimmer ist der Erste, der dann hervortritt und eine Kerze sowie Symbole der drei abrahamitischen Religionen – des Judentums, des Christentums und des Islams – vor dem Brunnen niederlegt. Nach und nach treten weitere Teilnehmer und Teilnehmerinnen vor, viele knien, halten teilweise kurz inne im Gebet und stellen dort ebenfalls ihre Kerzen und Leuchten ab. Nach wie vor wird auch vor dem Friedensengel nicht gesprochen, nur das Rauschen der Isar und der Fahrzeuge dringt kaum merklich durch die Stille. Nach wenigen Minuten löst sich die Menge auf. Schweigend.