Während Hamburg über Klimaneutralität bis 2040 abstimmt, verzögert sich das modernste Kraftwerk der Stadt. Der Volksentscheid für ein neues Klimagesetz wirkt wie ein Lupenglas. Der Weg zur Energiewende ist hochkomplex – und nicht weniger umstritten.

Es war ein Termin, den Hamburgs Umweltsenatorin Katharina Fegebank (Grüne) wohl lieber vermieden hätte. In wenigen Tagen stimmt die Stadt über den „Zukunftsentscheid“ ab – den Volksentscheid, der Klimaneutralität bis 2040 gesetzlich festschreiben will. Und ausgerechnet an diesem Montag musste Fegebank einräumen, dass Hamburgs modernstes Kraftwerk, das an der Dradenau entsteht, später ans Netz geht. Stattdessen läuft der nicht nur bei ihren Grünen-Parteifreunden verhasste Kohlemeiler in Wedel weiter – schon mehr als eine Dekade ist seit den ersten Abschaltplänen vergangen.

Draußen wirbelte Staub über die Kraftwerksbaustelle im Hamburger Hafen, drinnen im ersten Stock eines provisorischen Gebäudes saßen wenige ausgewählte Journalisten. Fegebank gegenüber hatte Kirsten Fust, die technische Geschäftsführerin der Hamburger Energiewerke, Platz genommen.

Der Termin war hochrangig besetzt, die beiden Frauen direkt in ihrem Ton. Denn die Botschaft war heikel: Die Gas- und Dampfturbinen-Anlage auf der Dradenau, die das alte Kohlekraftwerk Wedel ablösen soll, wird später fertig. Rohre und tausende Schweißnähte für den Wasserkreislauf der Fernwärme müssen nachgearbeitet werden. 950 Menschen arbeiten im Mehrschichtbetrieb – und trotzdem reicht es nicht, um endlich Ersatz für das 1960er-Jahre Kraftwerk die Elbe abwärts zu schaffen.

„Wichtig ist, dass wir dranbleiben“, sagte Fegebank. Doch während Hamburg über mehr Tempo beim Klimaschutz abstimmt, zeigt sich hier, wie schwer der Weg dorthin ist. Die Zukunft steht bereit. Das Kraftwerk auf der Dradenau, das Abwärme aus Industrie, Abwasser und Müllverbrennung in Hamburgs Fernwärmenetz bringen soll, das „wasserstoffready“ ist und bei einem Blackout große Teile der Stadt mit Strom versorgen könnte, gilt als Vorzeigeprojekt in Europa. Ein wahr gewordenes Wünsch-dir-was der Energiewende. Aber es lässt auf sich warten.

Ob diese Nachricht den Befürwortern oder den Gegnern des Zukunftsentscheids nutzt, werden diese jeweils anders deuten. Für die einen ist die Verzögerung ein Beleg, dass Hamburg mehr Druck benötigt, um seine Klimaziele zu erreichen. Für die anderen zeigt sie, wie riskant es wäre, sich per Gesetz auf ein fixes Datum festzulegen.

Die Pro-Argumente – und wer sie anführt

Die Befürworter des Zukunftsentscheids sehen in der Abstimmung eine historische Chance. Sie argumentieren, dass Hamburg als wirtschaftsstarke Metropole beim Klimaschutz nicht nur vorangehen könne, sondern müsse. Die Klimakrise dulde keinen Aufschub und die Stadt habe die Mittel, die Strukturen und die gesellschaftliche Unterstützung, um den Wandel zu stemmen.

Die Initiative „Hamburger Zukunftsentscheid“ ist aus dem Umfeld der Gruppierung Fridays for Future hervorgegangen. Angeschlossen haben sich Natur- und Umweltschutzverbände, aber auch Vereine aus der Stadtgesellschaft wie der FC St. Pauli. Am Donnerstag machten 80 Schauspielerinnen und Schauspieler der Hamburger Theater in einer großen Aktion auf ihre Unterstützung für den Volksentscheid aufmerksam.

Auf dem Weg zum Volksentscheid sammelte die Initiative zuletzt mehr als 106.000 Unterschriften und nahm damit sehr eindeutig die Hürde zum erfolgreichen Volksbegehren. Das Quorum liegt bei 66.000 Unterstützern. Als Senat und Bürgerschaft sich trotzdem nicht auf die Initiative zubewegten, meldeten die Vertrauenspersonen den Volksentscheid an. Ursprünglich sollte er zusammen mit der Bundestagswahl in diesem Herbst stattfinden. Durch die vorgezogenen Neuwahlen auf Bundesebene sind der Zukunftsentscheid und der zweite Volksentscheid zum Grundeinkommen (siehe Text unten) nun losgelöst von einer Wahl.

Das Kernanliegen des Zukunftsentscheids ist es, Klimaneutralität bis 2040 verbindlich im Klimaschutzgesetz zu verankern. Und das sieht nicht nur ein neues Zieljahr, sondern auch einen Kontrollmechanismus vor: Jährliche CO₂-Budgets, verbindliche Zwischenziele und ein Klimabeirat, der notfalls Sofortprogramme erzwingen kann. „Wir wollen, dass Klimaschutz nicht länger von der politischen Tagesform abhängt“, sagt Lou Töllner, Sprecherin der Initiative. „Je früher wir handeln, desto größer sind unsere Spielräume.“

Hans Schäfers, Professor an der HAW und Mitglied im Klimabeirat Hamburg, hält den vorgeschlagenen Pfad für realistisch – und notwendig: „Hamburg muss bei seiner Klimapolitik an Geschwindigkeit zulegen. Je früher wir klimaneutral werden, desto besser“, sagte er kürzlich der „taz“. Deswegen sei der Reduktionspfad, den die Initiative vorgibt, „ein guter Pfad, der uns 2040 in die Klimaneutralität führen würde“.

Die Initiative selbst betont, dass es nicht nur um ein neues Zieljahr geht, sondern um eine neue Qualität der Klimapolitik. Die Sprecherin Lou Töllner verweist auf eine kürzlich veröffentlichte Studie, die die Umweltbehörde in Auftrag gegeben hat. Aus ihrer Sicht zeige die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Forderungen der Initiative eindeutig: „Entscheidend dafür ist eine kluge und soziale Umsetzung, damit alle Hamburgerinnen und Hamburger profitieren.“ Dass die Gegner die gleiche Studie anders lesen, ficht sie nicht an.

„Mit dem Ziel 2045 läge Hamburg zu weit hinter anderen Bundesländern zurück“

Auch Umweltverbände wie NABU und BUND unterstützen den Entscheid. Malte Siegert vom NABU Hamburg erklärt sein Engagement so: „Politik und Wirtschaft brauchen gesellschaftlichen Druck.“ Sabine Sommer vom BUND Hamburg warnt vor einem Rückstand gegenüber anderen Bundesländern: „Wir haben jetzt die Chance, die Weichen für eine zukunftsfähige und klimafreundliche Stadt zu stellen. Mit dem Ziel der Klimaneutralität bis 2045 läge Hamburg zu weit hinter anderen Bundesländern zurück.“

Gewerkschaften und Sozialverbände sehen im Zukunftsentscheid ein Modell für sozial gerechten Klimaschutz. Die GEW etwa erklärt, sie unterstütze den Zukunftsentscheid, weil es klare jährliche Klimaziele brauche, „und die gesetzliche Garantie, dass alle Klimaschutzmaßnahmen sozialverträglich gestaltet werden“. Auch der Mieterverein zu Hamburg unterstützt den Vorstoß. Rolf Bosse bringt es – auch auf Plakaten – auf eine einfache Formel: „Sozialer Klimaschutz bedeutet auch bezahlbares Wohnen für alle!“

Politische Rückendeckung erhält die Initiative vor allem von Parteien links der Mitte. Landesparteichef Thomas Iwan von der Linken sagte am vergangenen Wochenende: „Der Hamburger Zukunftsentscheid setzt dem politischen Zögern, Zaudern und Versagen die Chance entgegen, das Scheitern von Paris nicht hinzunehmen. Dabei müssen alle Klimaschutzmaßnahmen zwingend sozialverträglich sein.“

Die Contra-Argumente und deren Absender

Doch die Gegner des Volksentscheids halten dagegen – mit teils scharfen Worten. Die SPD, die den Senat stellt, warnt vor sozialen Härten und wirtschaftlichen Risiken. Fraktionschef Dirk Kienscherf etwa liest das Gutachten der Umweltbehörde ganz anders als Befürworterin Lou Töllner: „Das Gutachten zeigt eindeutig, dass ein striktes Vorziehen der Klimaneutralität von 2045 auf 2040 zu erheblichen Belastungen und Einschnitten in Hamburg bei Privathaushalten und Wirtschaft führen würde. Das Zieljahr 2040 würde viele Hamburger hart treffen.“

Ebenfalls deutlich wird die Wohnungswirtschaft. Andreas Breitner, Direktor des Verbands norddeutscher Wohnungsunternehmen (VNW), warnt vor hohen Kosten. „Ein Vorziehen der Klimaneutralität Hamburgs um fünf Jahre ist eine ‚Operation am offenen Herzen‘ und verursacht unbezahlbare Kosten.“ Wer behaupte, dass Klimaneutralität bis 2040 die Mieter nicht erheblich belasten werde, „führt sie in die Irre. Mindestens 40 Milliarden Euro Investitionen wären nötig, die Mieten müssten um ein bis zwei Euro pro Quadratmeter steigen.“

Auch die Handelskammer Hamburg lehnt den Entscheid ab. Präses Norbert Aust sorgt sich vor wirtschaftlichen Schäden: „Die von den Initiatoren zur Abstimmung vorgeschlagenen Gesetzesänderungen sind für die Wirtschaft der falsche Weg. Sie erzeugen ein Korsett aus noch mehr Bürokratie und starren Regulierungen. Dies würde die Wettbewerbsfähigkeit der Hamburger Wirtschaft signifikant schwächen.“

Die CDU warnt vor sozialen Verwerfungen. In einer Stellungnahme heißt es: „Der sogenannte ‚Zukunftsentscheid‘ würde Hamburg schweren Schaden zufügen. Ein unrealistisches Ziel, das für jeden Einzelnen sehr teuer wird und sozial ungerecht ist. Schnelle und umfassende neue Auflagen würden Wohnen, Mobilität und viele andere Dinge des täglichen Lebens spürbar verteuern.“

Auch die FDP kritisiert den Entscheid als ideologisch motiviert. Landeschef Finn Ole Ritter sagt: „Wir lehnen diesen ‚Zukunftsentscheid‘ ab, weil wir an einen Klimaschutz glauben, der realistisch, wirtschaftlich tragfähig und sozial gerecht ist – und nicht an Symbolpolitik auf Kosten der Hamburgerinnen und Hamburger.“

Wie es nach dem 12. Oktober weiter geht

Hamburg ist nicht die erste Stadt, die sich dieser Frage stellt. In Berlin scheiterte ein ähnlicher Volksentscheid im Frühjahr 2023 am Quorum, obwohl die Mehrheit der Abstimmenden für ein früheres Klimaziel votierte. Auch in Hamburg könnte das drohen. Das Quorum liegt bei 262.000 Stimmen (siehe Text nebenan) – und sie müssen die Mehrheit bilden. Ein Ja hätte unmittelbar rechtliche Konsequenzen. Der Senat wäre verpflichtet, das Zieljahr 2040 ins Klimaschutzgesetz zu schreiben und verbindliche Maßnahmen umzusetzen.

Zurück auf der Dradenau. Die Baustelle brummt weiter, im Mehrschichtbetrieb gibt es keine großen Pausen. Katharina Fegebank wirft einen Blick in die künftige Leitzentrale. Die Fliesen sind noch Provisorien, klicken bei jedem Schritt. In der Mitte stehen halbfertige Schreibtische, Kabel hängen von der Decke, die Heizkörper sind noch eingepackt. Zukunft in Einzelteilen.

Fegebank spricht noch einmal von Optimismus, von einem Kurs, der nicht wackeln dürfe. Doch die Botschaft bleibt: Wedel läuft weiter – nur ein halbes Jahr, nach dem jetzigen Stand der Dinge. Aber das alte Kraftwerk sollte schon 2013, später 2015 das letzte Mal Kohle verbrennen. Dann wurde es 2017, 2021, 2024, zuletzt hieß es Frühjahr 2026. Jede zusätzliche Tonne Kohle schmerze, sagt Fegebank. Und man glaubt es ihr. Aber als Umweltsenatorin muss sie sich auch den Realitäten stellen. Und so weicht sie an diesem Tag der Frage nach dem Zukunftsentscheid und wie sie persönlich die Sache sieht aus.

Aber am 12. Oktober liegt es ohnehin nicht mehr bei ihr. Dann entscheiden die Hamburgerinnen und Hamburger, ob sie den Druck erhöhen – oder der Realität mehr Zeit geben. Die Dradenau ist dafür das Sinnbild: ein Projekt zwischen Versprechen und Verzögerung.

Redakteurin Julia Witte genannt Vedder arbeitet in der Hamburg-Redaktion von WELT und WELT AM SONNTAG. Seit 2011 berichtet sie über Hamburger Politik. Einer ihrer Schwerpunkte sind Energiewende und Klimapolitik.