Alle starren nur noch auf den Bildschirm? Nicht hier! In manchen Buchhandlungen können Lesefans mit Schlafsack, Kopfkissen und Zahnbürste auftauchen – um im Laden zu übernachten und bis in die Morgenstunden zu schmökern. Die Nachfrage ist enorm.
Die Buchhandlung „Rheinschmökern“ befindet sich in einer Seitenstraße des Krefelder Stadtteils Uerdingen. Landauf, landab sinkt die Zahl der Buchläden. Hier jedoch, in unmittelbarer Nähe zum Rhein, läuft das Geschäft. „Uns geht’s gut“, sagt Anja Choinowski, die Inhaberin. Außer dem Publikum, das den Laden betritt, um sich Lesestoff zu holen, stehen bei ihr an jedem Werktag kurz vor Ladenschluss lesehungrige Menschen mit Schlafsack, Kopfkissen und Zahnbürste auf der Matte. In der Buchhandlung kann man nämlich auch übernachten. In der ersten Etage, über eine knarzende Holztreppe zu erreichen, stehen ein Bett für zwei Personen und zwei zum Lesen einladende Stühle bereit.
Einmal eine Nacht in einer Buchhandlung verbringen, umringt von hunderten Büchern – das ist eine Vorstellung, die viele Menschen reizvoll finden. Von Regal zu Regal spazieren und kreuz und quer lesen nach dem Motto: „All you can read.“ Wunderbar. Fragt sich nur: wann? Den nächsten freien Termin bei Anja Choinowski gibt es im März 2026. Schon als Kind sei es ihr Traum gewesen, nachts in einer Buchhandlung eingeschlossen zu sein, sagt sie.
Ob sie keine Sorge hat, beklaut zu werden? Sie lacht: „Tagsüber ja, nachts nein. Wer Bücher klaut, wird im Leben nicht mehr glücklich. Das regelt das Karma.“ Die Gäste, die bei ihr übernachten, seien erstens Buchliebhaber und zweitens „die beste Alarmanlage. Die passen die ganze Nacht auf“. Klauen ergibt auch deshalb wenig Sinn, weil sie als gute Gastgeberin die persönlichen Daten ihrer Übernachtungsgäste hat.
Bücher: das diskreteste Angebot, in eine andere Welt abzutauchen. In einem Buch poppt nichts auf. Nirgends Links, die ablenken. Keine Werbung, die ausgerechnet dann nervt, wenn es spannend wird. Eine Nacht in einer Buchhandlung ist eine stille Verheißung, insbesondere im heraufziehenden Herbst, wenn man sich instinktiv in eine kuschelige Höhle zurückziehen und in eine andere Welt beamen möchte. Einmal in aller Privatheit Werke finden, von denen man gar nicht wusste, dass man sie sucht, und auf Gedanken kommen, auf die man nie im Leben von allein gekommen wäre. Wie der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges festhielt: „Lesen ist denken mit fremdem Gehirn.“
Anja Choinowski geht einen ungewöhnlichen Weg, was die Erfüllung dieser Sehnsucht angeht. Man muss halt einfallsreich sein, um sich als inhabergeführter Buchladen zu behaupten. Um dem Druck durch die Platzhirsche der Branche standzuhalten, die danach gieren, Flächen zu übernehmen.
Zudem bietet sie ein Erlebnis, bei dem kein noch so übermächtiger Online-Händler mithalten kann. 80 Euro pro Person kostet bei ihr der Schlafplatz, darin enthalten ist ein Büchergutschein. Kommt sie am Morgen in den Laden und sieht die Nachtgäste mit einer Tasse Kaffee vor einem Regal – in der Kaffeeküche darf man sich bedienen –, „dann gucken sie mich selig an. Von Büchern umgeben zu sein, macht was mit den Menschen. Bücher tun gut!“
Eine ihrer Übernachtungsgäste ist Sabine Brockof. Zweimal schon hat sie sich in dem Uerdinger Buchladen die Nacht um die Ohren geschlagen. Ihr Resümee? „Toll war’s.“ Wie viele Bücher sie zur Hand nahm? „Etwa 30. Zehn davon habe ich angelesen – bis zwei Uhr morgens, dann fielen mir die Augen zu.“ Ein Buch ganz durchzulesen kommt in solchen Nächten nicht infrage. „Das macht man zu Hause. Es geht ums Schmökern.“
Schlafplätze in Läden sind in Deutschland noch selten. Es gibt nur eine weitere Adresse: „Schwarz auf Weiß“ in Buxtehude. Dort betreibt die Inhaberin Tanja Drecke das Pensionsgeschäft noch länger als Anja Choinowski, die vor vier Jahren damit begann, wobei in Buxtehude Übernachtungen nur an den Wochenenden möglich sind (Preis: 115 Euro pro Person, inklusive Gutscheinen für Bücher und Frühstück im Café nebenan).
Wie in Uerdingen ist die Nachfrage kolossal groß: Die nächsten freien Termine gibt es 2027. Wenn „Bed and Books“ anstelle von „Bed and Breakfast“ so gut läuft, warum öffnen sich dann nicht mehr Buchhandlungen fürs Nachtgeschäft? „Weil die räumlichen Voraussetzungen stimmen müssen“, vermutet Anja Choinowski. Sie erhalte ihre Bücherlieferungen wochentags um fünf Uhr morgens. Jemand schließt den Laden auf und stellt die Kisten ab. Müssten die Übernachtungsgäste unten im Laden auf einer Luftmatratze schlafen, wäre das für sie wohl nicht so prickelnd.
Verkauf von sinnvoll gefüllter Zeit
Welches Potenzial Buchhandlungen bieten, wenn man sich von dem Gedanken verabschiedet, es gehe dort im Wesentlichen nur um den Verkauf von Lesestoff, zeigt der Blick über Grenzen. Beispielsweise nach Japan. Im Hostel „Book and Bed Tokyo“ kann man nicht nur lesen und schlafen, sondern sogar duschen und – sollte man sich spontan für ein ausgedehntes Nickerchen zwischen Bücherregalen entscheiden – alles Nötige kaufen, um sich anschließend frisch zu machen.
Eine Zahnbürste kostet laut Preisliste 110 Yen (60 Cent). Duschzeug und Gesichtsreiniger: 200 Yen. Rasierer: 152 Yen. Vermietung von Pyjamas: 550 Yen. Nicht der Verkauf von Büchern steht im Mittelpunkt, sondern der Verkauf von sinnvoll gefüllter Zeit mit Muße und Gelegenheit zum Nachdenken. Lauter knapp gewordene, teuer zu erkaufende Güter.
Über kurz oder lang wird
es bei uns mehr als nur zwei Buchhandlungen geben,
in denen man übernachten kann
Im schottischen Wigtown sind die Grenzen des klassischen Buchhandels auf eine andere, ungewöhnliche Weise verschoben. Der Ort gilt als „National Booktown“, als Schottlands Bücherstadt, wobei der Begriff Stadt falsche Erwartungen weckt: In Wigtown leben knapp 1000 Menschen. Der Ort ist landesweit berühmt für sein jährliches Bücherfestival, dessen jüngste Ausgabe gerade begonnen hat.
Und er ist bekannt für den Buchladen „The Open Book“. Die Etage über dem Geschäft kann man als Ferienapartment mieten (35 Euro pro Nacht), womit allerdings – und hier kommt der Clou – die Pflicht verbunden ist, den Buchladen für die Dauer des Aufenthalts zu führen. Die Nachfrage nach bibliophiler Ferienarbeit ist hoch, die Wartezeit auf einen Termin beträgt zwei Jahre. Die Kundschaft kommt aus Neuseeland, Marokko, China, Saudi-Arabien, aller Welt also.
Vor wenigen Tagen traf ein Paar aus den USA ein – und heiratete in dem Shop. Eine Premiere. Liebe und Liebe zu Büchern, das passt. „Das ‚Open Book‘ hat eine besondere Magie und ist zu einer Buchhandlung geworden, die im Mittelpunkt der Geschichten steht, anstatt nur welche zu verkaufen“, sagt Anne Barclay von der Wigtown Festival Company, die das Festival organisiert und das Buchladenferienhaus betreibt. So viele Geschichten, in den Regalen und davor!
Die Krefelder Buchhändlerin Anja Choinowski ist darum überzeugt: „Über kurz oder lang wird es bei uns mehr als nur zwei Buchhandlungen geben, in denen man übernachten kann.“