Endlich ist wieder Montag. Zum Wochenstart, nach der psychotherapeutischen Gruppentherapie, treffen sich hier die „Montagsmaler“. So nennt Kunsttherapeutin Sabine Finze das Quartett aus drei Männern und einer Frau. Das einstmals weiße Leinentuch auf dem langen Tisch ist mit Schlieren und Farbflecken übersät, darauf liegen Schachteln mit Buntstiften und Farbkreide, große Kunststofftuben mit Farbe, quadratische Farbtafeln sind über den Tisch verteilt.

„Das ist mein Anker hier“, sagt Günther Siefert. In der Psychosomatischen Institutsambulanz (PsIA) des Diakonie Klinikums können die Patienten ihre kreativen Seiten entdecken, zeichnen, malen, Collagen kleben, „auf spielerische Art, fernab von Leistungsdruck“, sagt Maria Roskowski. Auch sie heißt eigentlich anders, wie alle genannten Patientinnen und Patienten. Hier können sie offen sprechen, über sich, über ihr Leben und ihr Leiden, hier finden sie Ruhe und Entspannung. „Der Montag ist ein Fixpunkt, da fühle ich mich gut aufgehoben“, sagt Albert Petzold.

Jahrzehnte im Job – und plötzlich der Zusammenbruch

Alle in der Gruppe leiden an schweren Depressionen, haben mehrwöchige Klinikaufenthalte hinter sich. Alle waren Jahrzehnte im Beruf erfolgreich aktiv, bis es plötzlich nicht mehr ging. Einen „Workaholic“ nennt sich Günther Siefert, 53, Prokurist in einem mittelständischen Handelsunternehmen, im Ehrenamt in einem großen Verein in verantwortlicher Stellung. Dann der Absturz: Herzinfarkt, Schlaganfall, Hörsturz. „Längere Belastungen gehen nicht“, sagt auch Michael Riske, 55, Industrieelektriker in einem quälenden Trennungsprozess mit seiner Frau. Albert Petzold, 64, lange Projektleiter in einem Gewerbebetrieb, kommt meist „ganz abgeschlagen“ hier an. Maria Roskowski, 52, war mehr als zwei Jahrzehnte Projektmanagerin bei einem Autozulieferer. Heute geht sie kaum noch aus dem Haus. Auch sie ist froh, den vertrauten Kreis zu haben.

Susanne Rueß, Chefärztin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Foto: Diakonie-Klinikum

Die Depressionsgruppe war die „Startgruppe“ der Anfang des Jahres neu eingerichteten Psychosomatischen Institutsambulanz. Es ist die erste dieser Art in Stuttgart, der weitere in anderen Häusern folgen werden. Damit schließe man „eine Versorgungslücke zwischen ambulanter und stationärer Behandlung“, sagt Susanne Rueß, Chefärztin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. 18 stationäre und 12 teilstationäre Plätze hat die Klinik. Nur: Was geschieht nach dem stationären Aufenthalt? Oder: Was tun, wenn jemand eine Behandlung dringend bräuchte, aber kein Platz frei ist auf der Station?

Durch die Einrichtung der PsIA könne man Patienten aus der stationären Behandlung „früher entlassen, ohne dass sie in ein Loch fallen“, nennt die Chefärztin einen der Vorzüge des Angebots. Nur Psychotherapie reiche da oft noch nicht, erklärt Susanne Rueß. Durch die Vernetzung von stationärem und ambulantem Angebot können Patienten ambulant weiter „von einem multiprofessionellen Team betreut werden wie bei einem stationären Aufenthalt“.

Seit Jahresbeginn wurden in der PsIA 56 Patientinnen und Patienten behandelt, 21 konnten bereits wieder entlassen werden. Die Behandlungszeit betrug bisher drei bis sechs Monate. Der Großteil wurde von niedergelassenen Psychiatern zugewiesen. Die Patienten haben neben ihrer psychischen auch eine körperliche Erkrankung. Zur Psychotherapie und anderen Angeboten pflegt man einen engen Austausch mit den somatischen Disziplinen im Haus, so mit der Onkologie. Etwa ein Drittel der betroffenen PsIA-Patienten leidet an Krebs, insbesondere an Brustkrebs, ein weiteres Drittel an einer Essstörung. Auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfälle oder Adipositas mit entsprechenden Folgeerkrankungen kommen häufiger vor.

Insbesondere für die oft jüngeren Patientinnen, die unter Essstörungen wie Bulimie oder Magersucht leiden, sei das neue Angebot wichtig. Gerade bei Magersucht gebe es in den ersten Wochen nach dem Klinikaufenthalt „eine hohe Quote an Rückfällen“, sagt Chefärztin Susanne Rueß. Die könne man so „leichter vermeiden“. Das Diakonie Klinikum, dessen Psychosomatik einen Schwerpunkt bei Essstörungen hat, sei eine der wenigen Einrichtungen in der Region, die Patienten mit einem Body-Mass-Index (BMI) unter 14 aufnehme, das macht die Therapie sehr anspruchsvoll.

An diesem Tag geht es in der Besprechung des PsIA-Teams um die Frage, ob für eine neue Patientin Anfang 40, die an einer schweren Bulimie, also Ess-Brech-Sucht, und an einer Depression leidet, die Aufnahme in die PsIA passt oder doch ein stationärer Aufenthalt nötig ist. Die ambulante Behandlung hätte für die Architektin den Vorteil, dass sie zumindest zunächst nur einen Tag in der Woche käme, was gut mit ihrem Job vereinbar wäre. Das nutzen etliche Patienten. Diese Möglichkeit erleichtert nach einem stationären Aufenthalt die Wiedereingliederung in den Beruf.

Auch die Teilnehmer der Depressionsgruppe kommen einmal in der Woche ins Diakonie Klinikum. Außer Kunsttherapie und der Bewegungsgruppe steht heute der Achtsamkeitskurs auf dem Programm. Es ist ein trüber, verregneter Tag und Charlotte Crawford muntert das Quartett auf mit der Bemerkung, Stuttgart erlebe eben „einen schottischen Sommer“. Crawford weiß, was das heißt, sie kommt aus Edinburgh. Heute geht es ihr um die Frage: „Was tue ich, wenn es mir nicht gut geht?“ Etwa wenn Michael Riske feststellt: „Zuhause kriege ich den Kopf nicht frei.“ Oder wenn Albert Petzold, wie am Wochenende, vor einer dringend nötigen, aber aufwühlenden Aussprache mit dem Vater und dem Bruder steht. Wenn sich Ängste und Panik breit machen und das Gedankenkarussell sich immer schneller dreht.

„Wenn man unter Strom ist“, sagt Charlotte Crawford, können „Ablenkungstechniken“ hilfreich sein. Sie lässt die vier Teilnehmer in der Runde von 200 in Siebenerschritten herunterzählen und Namensketten bilden, bei denen immer End- und Anfangsbuchstabe gleich sind. Und der Kurs enthält, wie die Bewegungsgruppe und die Aromatherapie, die an diesem Tag in einem anderen Kreis stattfindet, neben gesprächstherapeutischen Elementen auch meditative Übungen, welche die Teilnehmer zur Ruhe kommen lassen.

Charlotte Crawford hat schon in ihrer schottischen Heimat als Mental Health Nurse gearbeitet. Dort werden Pflegekräfte schon lange in therapeutische Prozesse wie diese einbezogen. Dass ihnen nun auch hierzulande „mehr Verantwortung übertragen wird“, hält Susanne Rueß „für den größten Gewinn“ der neuen Einrichtung. Schon weil das Verhältnis der Patienten zu den Pflegekräften ein anderes sei als zur Ärzteschaft. „Das setzt viele Ressourcen frei und macht den Beruf attraktiver“, betont die Chefärztin.

Im Lauf des Tages geht es allen in der Gruppe besser

Inzwischen ist die Stimmung in der Gruppe heiter und gelöst. „Im Vergleich zu heute morgen hat sich mein Kopf doch sehr entspannt“, lobt Michael Riske den Tagesverlauf. Alle sind nun zu Späßen aufgelegt, man vertraut und neckt sich auch schon mal. Nachdem Günther Siefert im Bewegungskurs die Wahrnehmungsübung absolviert hat, bei der die Gruppe auf den Fußkanten gehen und dann einige Übungen mit Holzstöcken machen muss, stellt er fest: „Am Anfang fand ich das ganz komisch. Aber wenn man mitmacht und sich einlässt, ist das gut.“